Kapitel 100 - Samu

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Es gab sicherlich tausende Dinge, die ich ungern tat, doch Elena jetzt so auf sich gestellt zu lassen, war wohl das schrecklichste überhaupt. Klar hatte auch ich meine Verpflichtungen, was auch wichtig war, aber Elena war mir in dem Moment um Längen wichtiger. Im Flugzeug summte ich mir immer wieder diese Melodie vor, die mir bei ihr eingefallen war und musste unwillkürlich beim Gedanken an ihr hübsches Gesicht, ihr wunderschönes Lächeln und dem Klang ihrer lieblichen Stimme, grinsen. Der Termin in Helsinki war zumindest ganz angenehm, obwohl es mir wahnsinnig schwer fiel normales Finnisch zu sprechen. Mit Elena redete ich irgendwie in einer Mischung aus Englisch, Deutsch und Finnisch, je nachdem, was uns gerade eher auf der Zunge lag. Hätten uns Leute gehört, würden sie denken, wir seien vollkommen durchgeknallt, aber wir beide verstanden uns ausgezeichnet, es war auch irgendwie ganz lustig. Am späten Nachmittag setzte ich mich mit meiner Gitarre ins Wohnzimmer und wiederholte die Tonabfolge. Wie auf Knopfdruck fielen mir nicht nur die passenden Akkorde, sondern auch der entsprechende Text dazu ein. Es passte einfach. Immer und immer wieder spielte ich die Passagen, notierte mir ein paar Worte und Noten, nahm etwas auf und änderte hier und da etwas ab, bis es sich für mich perfekt anhörte und schickte es Riku. Mittlerweile wurde es draußen schon dunkel und ich legte die Gitarre beiseite. Den gesamten Tag hatten Elena und ich schon hin und her geschrieben, doch seit einigen Stunden antwortete sie nicht mehr, was mich zunächst nicht beunruhigte, schließlich saß sie nie ununterbrochen am Handy, aber mittlerweile machte ich mir schon Sorgen, weswegen ich sie anrief. Als keiner dran ging und ich es erneut einige Male versuchte, klingelte es plötzlich an meiner Wohnungstür. Wer wollte denn jetzt noch was von mir? Wenn Mikko mich wieder irgendwie durch die Weltgeschichte jagen wollte, drehte ich ihm den Hals um. Im Türrahmen wartete ich geduldig, doch hatte wirklich gerade andere Dinge im Kopf. "Hi", lächelte mir Vivi schließlich entgegen und kam schüchtern auf mich zu. Völlig perplex blieb ich an Ort und Stelle stehen und starrte sie an. Ihre Nachricht und vor allem sie hatte ich ganz vergessen. Sie war dünner als ich sie in Erinnerung hatte, wodurch ihre Schlüsselbeine noch mehr zum Vorschein traten. Ihre Haare hatte sie in einen Zopf zurückgebunden und sich nur dezent geschminkt. Obwohl sie diesen Blick aufgelegt hatte, den ich früher so an ihr mochte und mich immer wieder um den Finger wickelte, spürte ich rein gar nichts, als sie so direkt vor mir stand. "Was willst du denn hier?", sah ich sie entgeistert an. "Ich habe dir doch geschrieben und naja, ich hab es einfach jeden Abend probiert, weil du nicht geantwortet hast", zuckte sie mit den Schultern und sah verlegen zur Seite. "Willst du mich nicht reinbitten?", fragte sie leise. "Ehm ... nein eigentlich nicht, was willst du hier?", stemmte ich meine Hände in die Seiten. "Können wir das bitte drinnen besprechen, bitte", flehte sie mich an, weswegen ich sie widerwillig hereinbat. Ich setzte mich ihr gegenüber an den Esstisch und schaute sie gebannt an, da ich keinerlei Vorstellungen über den Grund ihres dringenden Besuches hatte. "Also wir haben uns ja Ende November getrennt ..." - "Du hast dich von mir getrennt", unterbrach ich sie. "Ja gut, aber ... also ... das ist jetzt etwas vier bis fünf Monate her", atmete sie tief durch. Ich hatte gerade so eine Ahnung, auf was das hinauslief, wollte es aber nicht wahrhaben. "Samu, ich ... ich bin schwanger und zwar von dir", brach es aus ihr heraus. Mein Herz setzte für einen Moment aus, meine Atmung stockte, mein Kopf war völlig leer. Das konnte nicht wahr sein. Nicht jetzt und vor allem nicht Vivi! "Ich habe weiterhin meine Tage gehabt und die Pille genommen und meistens hatten wir ja zusätzlich ein Kondom, weswegen ich es erst vor kurzem gemerkt habe. Ich war schon beim Arzt und ich bin im vierten Monat schwanger. Es führt kein Weg dran vorbei, jetzt kann ich es ja auch nicht mehr wegmachen lassen", reichte sie mir ein Ultraschallbild, stütze ihren Kopf in die Hände und schluchzte leicht. Völlig starr und stumm sah ich zwischen dem schwarz-weißen Bild, auf dem man eine Art kleine Bohne erkennen konnte und ihr, wie sie weinte hin und her. Das war unmöglich! Wir hatten im November einmal Sex, ein einziges Mal und das sollte jetzt mein Leben auf den Kopf stellen? Ja ich wollte Kinder, aber nicht so und schon gar nicht mit Vivi, die immer noch nicht von dieser Idee begeistert schien. Das Kind 'wegmachen lassen'. Als wäre es ein Gegenstand. Sanft legte ich nun doch meine Arme um sie und streichelte ihren Rücken. Mit ihren langen Fingernägeln krallte sie sich in mein Shirt und heulte unaufhörlich. Sie wollte das Kind nicht, ganz und gar nicht, ich ja auch nicht, also nicht mit ihr, aber ich musste es ja nicht in mir tragen. "Samu, ich kann das nicht alleine", schluchzte sie in meine Brust. "Du bist doch nicht alleine", versuchte ich sie zu beruhigen. "Nein, du verstehst nicht, ich will das nicht alleine", sah sie mich mit ihren rot unterlaufenen, angeschwollenen, blauen Augen an. "Was meinst du damit?", entfernte ich mich etwas mehr von ihr. "Samu, du wolltest doch immer eine Familie, eine Frau, Kinder also mit allem Drum und Dran. Wenn ich ein Kind in diese Welt setzte, dann würde ich mir für das Kind nichts sehnlicher, als genau das wünschen. Als du mich so darauf angesprochen hast, da war ich nicht bereit dazu, ich konnte mir das einfach nicht vorstellen, aber jetzt kann ich es. Ich möchte eine Familie, für das Kind, für mich und zwar mit dir", streichelte sie mir über die Wange.

Beautiful Lifesaver | Samu & Elena (Teil 1)Where stories live. Discover now