142: Sonnenaufgang

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"MORGEN?!"

"Morgen."

"Verdammter Mist!", fluchte ich.

Denn soeben hatte ich von Beckett erfahren, dass Jacks Hinrichtung schon morgen sein würde. MORGEN! Ich dachte daran, wie er unwissend und mutterseelenallein in der Zelle hockte und machte mir verdammt miese Vorwürfe. Ich hätte ihn mitnehmen müssen. Ich hätte ihn nicht einfach in der Zelle sitzen lassen sollen. Ich war eine miserable Ehefrau - Himmel, klang das befremdlich! Mir gefiel der Ausdruck 'Freundin' irgendwie besser. Wahrscheinlich musste ich mich noch daran gewöhnen. Aber mein armer Jack. Ganz allein in der dreckigen Zellen. Und das Allerschlimmste war: er hatte keine Ahnung, wo ICH steckte! Er könnte denken, sie hätten mich in der Nacht schon rausgeholt, um mich zu hängen. Er wusste doch nicht, dass ich da war, lebte und ihn retten würde. Er KONNTE es nicht wissen. Er konnte es noch nicht einmal im Geringsten AHNEN. So ein dreimal verfluchter Möwenschiss! Mein armer Jack...

Und bei dem Gedanken, dass er womöglich denken würde, ich wäre schon längst tot, schossen mir die Tränen in die Augen und ein beklemmendes Gefühl breitete sich in meinem Brustkorb aus, sodass ich nach Luft schnappen musste, um halbwegs normal atmen zu können. Die Tränen stauten sich in meinen Augen und kullerten schließlich heraus und an meinen Wangen hinab.

"Leandra, Liebste", sagte Beckett besänftigend und legte mir seinen Arm um die Schultern. "Du hast schon einmal jemanden vor dem Galgen gerettet. Wie ich dich kenne, wirst du es wieder schaffen."

"Cutler...", sagte ich und seufzte. "Damals war es verdammt knapp und um ein Haar wäre Hendric tot gewesen! Ich habe solche Angst, Jack zu verlieren."

"Es ist deine einzige Chance, ihn zu retten, Liebste."

"Das musst du mir nicht sagen; das weiß ich..."

"Na, also!", munterte Beckett mich auf. "Und du weißt auch, dass du es schaffen wirst."

"Hm-m...", machte ich und nickte langsam.

"Leandra, ich weiß, dass du es schaffen wirst. Glaub an dich, so wie ich es tue!" Beckett lächelte mich nun aufmunternd an.

"Danke, Cutler", sagte ich und lächelte schließlich auch.

Ich war ihm so dankbar dafür, dass er mich aufbaute. Ich hätte nie auch nur den winzigen Hauch eines Gedanken daran verschwendet, dass er und ich uns noch einmal ansatzweise so verstehen würden, wie wir es jetzt taten. Es war unglaublich. Und um ehrlich zu sein, hasste ich ihn nicht mehr so sehr, wie ich es mal tat. Der Hass war nicht mehr sehr groß. Er existierte - und ja: er würde wohl für immer existieren, da Beckett mich damals zutiefst verletzt hatte. Schließlich hatte er ein großes, tiefes Loch in meiner Brust zurückgelassen! -, aber er war lange nicht mehr so groß, wie er einmal gewesen war, da war ich mir sicher.

Aber Jack... Ich wollte ihn nicht verlieren. Das würde ich nicht überstehen. Wenn ich es nicht schaffen sollte - und ich wagte es kaum, daran zu denken - würde er mich mitnehmen. Zurückbleiben würde nur eine Hülle. Mein Leben, meine Emotionen, mein Ich würde er mit sich nehmen. Ohne ihn würde ich nicht mehr leben können, da war ich mir absolut sicher, so blöd das auch klingen mochte, doch so unendlich viel bedeutete er mir eben. Aber warum machte ich mir Sorgen? Ich würde es schaffen, natürlich würde ich das! Ich hatte es schließlich schon einmal geschafft. Ich konnte das!

"Rising up back on the street. Did my time, took my chances", begann ich dann zu singen.

Beckett starrte mich an. "Was wird das?"

"Singen", erklärte ich knapp. "Das beruhigt mich. Und es motiviert mich!" Und ich sang weiter: "Went the distance, now I'm back on my feet, just a girl and her will to survive. Don't lose your grip on the dreams of the past, you must fight just to keep them alive. It's the eye of the tiger, it's the thrill of the fight rising up to the challenge of our rival and the last known survivor stalks his prey in the night and he's watching us all with the eye of the tiger."

Always the Sea - Die Abenteuer der Jessie Bones (Fluch der Karibik FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt