98: Sei vorsichtig, Schätzchen

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Nach einigen Minuten löste ich mich aus der Umarmung und sah Jack an. "Ich will das nicht", flüsterte ich bloß. "Ich will das nicht."

Jack sah mir einen Moment lang stumm in die Augen und streichelte über meine Wange, wobei er eine Träne weg wischte. Dann bückte er sich und hob mein Herz vom Schiffsdeck auf.

Ich wusste, dass wir angestarrt wurden. Ich wusste, dass alle uns staunend, ja sogar fassungslos beobachteten. Doch diese Blicke waren mir momentan echt sowas von egal. Jack hielt mein Herz in seinen Händen. Metaphorisch ebenso wie wörtlich.

"Es gehört dir", sagte ich und zuckte mit einer Schulter. "Es hat immer dir gehört. Pass gut darauf auf. Ich... ich muss meine Pflicht erfüllen."

"Captain Bones!", rief auch schon jemand von der Flying Dutchman zu mir herüber - ich wurde tatsächlich schon erwartet. Und anscheinend auch akzeptiert. Und wieso kannte man dort drüben eigentlich meinen Namen?

Captain Bones. Ich musste mich erstmal an diesen Namen gewöhnen. Bis jetzt hatte ich 'Captain Bones' immer meinem Vater zugeteilt. Doch jetzt war ich es auch. Das musste ich erstmal verkraften.

"Jack...", wisperte ich.

Jack steckte mein Herz vorsichtig in die Innentasche seines Mantels, ergriff meine Oberarme und sah mir eindringlich in die Augen. "Pass auf, Süße! Ich habe eine Idee, wie ich dich vor diesem Schicksal bewahren kann. Du musst nur eine kurze Zeit als Captain der Flying Dutchman durchhalten, versprichst du mir das?"

Ich nickte.

"Ich werde Tia Dalma aufsuchen und sie bitten, Davy Jones aus dem Totenreich zurückzuholen, damit er seinen alten Posten wieder antreten kann und du frei bist. Es wird garantiert eine Möglichkeit geben", erklärte er mir und drückte mir einen Kuss auf die Stirn. "Vertrau mir. Sobald ich bei Tia Dalma war, kehre ich zu dir zurück. Du musst nur Geduld haben. Warte auf mich."

Ich nickte und es stauten sich Tränen in meinen Augen. "Danke, Jack."

"Ich werde auf dein Herz achten. Es ist sicher bei mir, Jessie, das verspreche ich dir. Und ich weiß, dass du das schaffst. Du bist mutig. Du bist stark. Du hältst das durch. Und davon bin ich fest überzeugt, klar soweit?!", redete er mir gut zu.

Ich nickte traurig lächelnd. "Danke. Ich vertraue dir, Jack."

"Captain Bones!", wurde ich erneut gerufen.

"Du musst los, Liebes."

"Ich weiß", antwortete ich, zückte mein Schwert, schnitt mein Hemd von oben bis unten auf, steckte mein Schwert wieder weg und knotete die Enden des Hemdes über meinem Bauchnabel zusammen. Ein Grinsen huschte über mein Gesicht. Mein Hai-Tattoo war nun deutlich zu sehen. Nur falls jemand da drüben nicht den nötigen Respekt vor mir haben sollte, aye?!

Ich warf meine Arme erneut um Jacks Hals und küsste ihn sehr lange. Schließlich stand es in den Sternen, wann wir uns wiedersehen würden. Es fühlte sich an, wie ein Einstieg in eine neue Welt. Ein neuer Lebensabschnitt. Als Captain der Flying Dutchman. Und es fühlte sich an, wie ein Abschied. Ein vorübergehender Abschied. Und eigentlich wollte ich gar nicht weg. Aber ich musste.

Als ich mich dann von Jacks Lippen löste, sah ich noch einmal in seine wunderschönen, dunkelbraunen Augen. Wann würde ich ihn wiedersehen?

"Mach's gut, Jessie, Liebes. Bis bald", sagte er und ich sah einen Schimmer von Schmerz in seinen Augen.

"Bis bald, Jack. Ich warte auf dich", sagte ich lächelnd und atmete einmal tief durch. "Ich liebe dich. Und vergiss mich nicht."

"Tu ich ebenfalls", sagte Jack. "Und achte besser mal darauf, dass du mich nicht vergisst... so ohne dein Herz...", meinte er und starrte leicht verunsichert auf meine Brust.

"Es fühlt sich eigentlich wie vorher an", beruhigte ich ihn. "Nun denn, ich denke, ich muss jetzt wirklich los. Arme Seelen im Totenreich abliefern und so. Na das wird ein schöner Job", sagte ich sarkastisch und musste ein wenig grinsen. "Bis bald, mein Liebling!"

"Sei bitte vorsichtig, Schätzchen und pass gut auf dich auf. Alles wird gut!", sagte Jack.

Ich sah ihn lächelnd an. "Das bin ich. Pass du auch auf dich auf. Und lass dir bitte nicht allzu viel Zeit."

"Wie könnte ich. Ich habe doch jetzt schon Sehnsucht nach dir", entgegnete Jack und grinste tatsächlich ein wenig.

Ich lächelte, wandte mich von ihm ab und trat auf die Reling zu. In der Menge der Crew erkannte ich Gibbs, Elizabeth, Will und Juana. Ich lächelte allen einmal zu. Dann wurde mir von drüben ein Tau zugeworfen. Ich ergriff es, stellte mich auf die Reling und wandte mich an die gesamte Black Pearl.

"Lebt wohl, meine Freunde! Wir werden uns wiedersehen, so viel ist klar. Und vergesst eines nie: ihr werdet den Tag nie vergessen, an dem Captain Jessie Leandra Bo-" Abrupt fiel ich von der Reling, klammerte mich an das Tau und flog durch die Luft herüber auf das andere Schiff zu. "-oooooooooones-" Ich landete auf der Reling der Flying Dutchman, schwankte das Gleichgewicht suchend kurz hin und her und beendete dann meinen Abschiedsatz: "-euch leider Gottes verlassen musste!" Ich hüpfte von der Reling und befand mich nun auf dem Hauptdeck der Flying Dutchman - irgendwie hätte das alles, was mir gerade passiert war, auch glatt Jack passieren können. Tja, wir waren uns schon irgendwie ein bisschen ähnlich.

Sofort sah ich hinüber zur Black Pearl. Jack beobachtete mich grinsend. Dann brüllte er Befehle, von wegen Segel setzen, sah auf seinen Kompass und suchte offenbar den Kurs zu Tia Dalma. Er würde mich von meinem Schicksal befreien. Er würde einen Weg finden, da war ich sicher. Er war doch echt zu süß für diese Welt.

"Captain", sagte dann jemand und ich realisierte erst später, dass ich mich wohl angesprochen fühlen sollte.

Ich blickte mich um und sah ein Crewmitglied, das mir einen Hut hin hielt. Moment mal. Da fehlte doch irgendwas. Die Crew der Flying Dutchman bestand keineswegs mehr aus Fischköpfen... War mit Davy Jones etwa ein Fluch aufgelöst worden? Garantiert!

Ich ergriff den Hut, setzte ihn auf und murmelte: "Danke." Dann ging ich über das nasse und schleimige Deck und rief: "Ist das euer Ernst?!" Alle sahen mich verwundert an. "Putzt! Putzt bis alles glänzt und sauber ist! Denkt ihr, ich will in Schleim wohnen? An die Arbeit, ihr Landratten!" Und jetzt wusste ich, wie gut Jack sich immer fühlen musste, wenn er Befehle gab und ich musste lächeln. "Setzt die Segel! Anker lichten! Hopp!"

Ich ging auf das Steuerrad zu, ergriff es und wirbelte es herum. Dann sah ich wieder hinüber zur Black Pearl. Jack starrte mich an. Ich grinste.

"Ahoy, Captain Sparrow und auf ein baldiges Wiedersehen!", rief ich ihm zu und grüßte ihn mit meinem Hut.

Jack grinste zurück. "Ahoy, Captain Bones!", rief er und grüßte zurück. "Bis ganz bald!"

"Ich liebe dich", hauchte ich noch leise und schluckte ein paar Tränen herunter.

Dann lichtete auch die Black Pearl den Anker und machte sich auf den Weg. Ich blickte gen Horizont und steuerte. Ich war Captain. Captain der Flying Dutchman. Ich, eine Frau, eine Kapitänin. Mit so etwas hatte ich nie im Leben gerechnet. Jetzt konnte ich aber nur hoffen, dass Jack Tia Dalma möglichst bald fand. Und vor allem, dass Tia Dalma Jacks Bitte nachkommen würde und die beiden mich von meinem erbärmlichen Schicksal befreien könnten! Für Davy Jones, so hieß es nämlich, zählte es sowie so nur zu leben. Nicht wie oder wo. Nur leben. Da war es doch perfekt. Er konnte wieder der stinkige Captain dieses dreimal verfluchten Schiffes sein und ich konnte wieder bei Jack sein. So würden doch sicher alle zufrieden sein. Oder?

Always the Sea - Die Abenteuer der Jessie Bones (Fluch der Karibik FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt