74: Durchatmen

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Als Jack am nächsten Morgen erwachte und die Augen aufschlug, sah er als erstes die Decke seiner Kajüte. Er lag also auf dem Rücken. Sein nächster Blick galt Jessie. Sie lag neben ihm auf dem Bauch und schlief noch. Jack spürte, das ihr linkes Bein angewinkelt über seiner Hüfte lag. Jack senkte seinen Blick und blickte an sich herab. Jessies linke Hand lag auf seiner nackten Brust und Jack konnten den kühlen Ring an ihrem Finger spüren. Er sah außerdem das Tattoo mit dem Vogel auf ihrem Arm und musste leicht grinsen. Jack ergriff vorsichtig Jessies Arm, streichelte über das Tattoo und begann nachzudenken. Jessie musste ihn wirklich sehr lieben. Immerhin hatte sie ihren Vater für ihn verlassen. Sie hatte sich außerdem in die Skelette gestürzt, nur um ihn zu retten. Aber würde er auch dasselbe für sie tun? War er auch zu solch einer Tat bereit?

"Aye", sagte Jack laut zu sich selbst und fragte sich im nächsten Moment, warum er das eigentlich laut gesagt hatte.

Er war eigentlich derjenige, dem seine eigene Haut am wertvollsten war, der in erster Linie sich selbst rettete. Aber irgendwas hatte Jessie eben mit ihm angestellt, dass er das Bedürfnis hatte, auch ihre Haut zu retten. Und er wusste bereits, wie es sich anfühlte, wenn sie nicht da war. Und dieses Gefühl würde er gerne in Zukunft vermeiden wollen. Aber was würde geschehen, wenn sie dieses Abenteuer, beziehungsweise seine Folgen nicht überleben würde? Wenn die Wunden, die sie davon getragen hatte, zu gefährlich waren? Jack setzte sich sofort auf und Jessie Arm glitt von seiner Brust in seinen Schoß. Natürlich würde sie überleben. Sie musste es. Sie war stark und die Wunden waren schließlich nicht super-gefährlich tief. Und Tia Dalmas Salbe war perfekt. Natürlich würde sie bald wieder wohlauf sein. Jack durfte nicht einmal an etwas anderes denken.

Er drehte sich zu Jessie um. Zuversichtlich betrachtete er sie. Ihre Situation war zwar schon ein bisschen kritisch. Aber sie würde es ganz sicher schaffen; das wusste Jack. Immerhin war Jessie hart im Leben und hatte schon schlimmere Situationen erlebt. Er streichelte kurz über ihre Wange. Jessie atmete. Ruhig und gleichmäßig. So, wie es sein sollte. Jack beschloss, sie ein wenig allein zu lassen. Wenn sie wach werden würde, würde sie sowie so als erstes ihre Wunden verheilen lassen wollen. So wie Jack sie kannte, würde sie erstmal keine aufregenden Dinge tun, sondern sich vollkommen erholen wollen, denn sie war ja vernünftig. Wobei... so wie Jack sie kannte, konnte sie allerdings auch ziemlich unvernünftig sein. Vielleicht würde sie direkt wieder in die nächste Schlacht ziehen wollen oder sich auf die nächste Schatzsuche begeben wollen. Denn SO vernünftig war sie nun auch wieder nicht.

Er schwang seine Beine aus der Koje und stolzierte zum Fenster hinüber. Die Sonne schien und der Himmel war blau. Ein schöner Tag. Und Jessie verpennte ihn gerade. Aber was soll's; sie sollte sich schön gesundschlafen. 

Jack zog sich sein Hemd über und ließ sich an dem großen Schreibtisch nieder. Er beugte sich über die Seekarten und setzte ein Kreuz mitten in die Karibische See. Dann öffnete er die Schublade und kramte nach dem ledernen Buch. Er fand es und holte es hervor. Jack öffnete das Buch und blätterte darin. Als er den letzten Eintrag fand, zückte er erneut die Feder und trug ein: 'Schatz des Ramiro dem Ersten erobert. Kurs genommen auf'... Jack überlegte. Hatten sie überhaupt einen Kurs? Wo wollten sie eigentlich hin? Es war bestimmt in Jessies Sinn, Captain Til Bones, ihren Vater, aufzusuchen. Schließlich sollte er doch erfahren, dass seine Tochter wohla- ähem... halbwegs wohlauf war. ...'die Great Maid, Captain Til Bones' Schiff'.

Jack legte die Feder beiseite und blickte sich um. Jessie schlief immer noch seelenruhig und Jack verlor sich mal wieder in ihrem entzückenden Anblick. Ihm wurde einmal mehr bewusst, dass er sie wirklich mehr als sehr mochte. Jack klappte das Buch zu und legte es zurück in die Schublade, welche er daraufhin wieder zu schob. Dann holte er seinen Kompass hervor, legte ihn auf den Tisch und klappte ihn auf. Der Pfeil huschte umher und blieb schließlich stehen. Er deutete schräg geradeaus. Jack hob den Blick und sah eine braune Flasche auf dem Schreibtisch stehen. Er verdrehte die Augen, griff nach der Flasche und nahm einen großen Schluck Rum. Jack lehnte sich entspannt zurück und legte die Beine übereinander auf dem Schreibtisch ab. Er führte die Flasche erneut zum Mund und nahm einen weiteren Schluck. Es gab doch nichts besseres als Rum...




Ich öffnete die Augen. Grelles Licht blendete mich und ich kniff ein Auge wieder zu. Mit dem andere blinzelte ich umher. Dann nahm ich die Schmerzen wieder wahr und mir fiel ein, was gestern passiert war. Ich seufzte genervt und stützte mich mit einem Arm nach oben, sodass ich saß. Ich strich mir die Haare aus dem Gesicht und merkte, dass sie total zerzaust waren. Na toll. Dann entdeckte ich die grinsende Fratze von Jack. Er saß an seinem Schreibtisch, hatte sich zu mir gedreht und blickte mich amüsiert und, wie schon gesagt, grinsend an.

"Na du siehst ja ziemlich lebendig aus. Bist du dir sicher, dass du wach bist, oder gar lebst?!", neckte er mich.

"Na vielen Dank auch. Ich wünsch dir auch 'nen guten Morgen, Spatzi", antwortete ich sarkastisch.

Jacks Grinsen wurde breiter. "Gut, dir fehlt nichts. Denn sarkastisch sein kannst du schon wieder."

Er nahm einen Schluck Rum aus seiner Flasche, stellte diese dann auf dem Tisch ab, nahm die Beine vom Schreibtisch und erhob sich von seinem Stuhl. Er stolzierte mit seiner schwankenden, aber süßen Art auf mich zu und setzte sich neben mich in die Koje.

"Wie geht's dir?"

"Du stinkst nach Rum."

Jack verkniff sich ein Grinsen. "Das ist weder die Antwort auf meine Frage, noch von großer Bedeutung. Also?"

Ich seufzte. "Nicht viel besser, als gestern. Außer, dass die blauen Flecken an meiner Hüfte nicht mehr so sehr weh tun. Sieh mal: sie sind lila geworden!", sagte ich begeistert und fasziniert.

Jacks Augen wanderten zu meiner Hüfte und er war weniger begeistert und fasziniert als ich; er verzog das Gesicht. Dann wandte er sich wieder an mich: "Weißt du, Liebes, ich dachte, es wäre in deinem Sinn, wenn wir Kurs auf deinen Vater nehmen, aye?! Du kannst ihm ja von deiner heldenhaften Tat erzählen."

"Spinnst du?! Der bringt mich um! Ich sollte mich schließlich nicht in Gefahr begeben", erklärte ich und musste aufgrund meiner eigenen Aussage amüsiert lächeln.

"Wenn das der Fall sein sollte, Jessie, Liebes, musst du ihn davon überzeugen, dass in dir eben eine echte Piratin steckt, verstehst du?! Du bist wild und frei und kämpferisch!", sagte Jack theatralisch. 

"Ach, Jackie. Du kennst doch meinen Dad. Er macht sich viel zu viele Sorgen um seine geliebte Tochter...", sagte ich kichernd und legte meine Hand auf seinen Oberschenkel; sanft streichelte ich darüber und blickte in seine dunklen Augen.

Dann legte ich meine Arme um seine Schultern, kam ihm näher und lächelte zuckersüß. Jack senkte seinen Blick und starrte auf meine Lippen. Dann legte er seine Hände auf meinen Rücken und sah mir wieder in die Augen.

"Nein, wirklich, Jessie. Ich meine es Ernst. Til hat immer Angst um dich, obwohl du kämpfen kannst und das solltest du ihm beweisen", meinte Jack.

"Jack. Wenn ich ihm erzähle, dass ich fast gestorben wäre, bringt er mich um!"

"Das ist irgendwie paradox, findest du nicht?"

"...ein wenig, ja", stellte ich fest, fuhr ein Stück von ihm weg und sah ihn leicht verwirrt an.

Jack grinste auf meinen Blick hin. "Zeig ihm, dass du eine große, starke, mutige Frau geworden bist, die sich wehren kann, die frei ist. Dann versteht er es vielleicht."

Ich nickte. "Frei. Mutig. Stark. Ja, vielleicht sollte ich das tun." Ich legte überlegend den Kopf schief. "Wenn sich die Gelegenheit dazu bietet. Irgendwann."

Dann sah ich Jack wieder an, lächelte und kam ihm näher. Jack blickte mich mit einem zuckersüßen Blick aus seinen wunderschönen Augen an. Eine normale Person konnte diesem Blick nicht widerstehen. Da ich aber eine unnormale Person war, konnte ich ihm nicht nur nicht widerstehen, nein, ich verfing mich auch in ihm, sodass ich alles um mich herum vergaß. Doch das war weniger wichtig. Denn für mich gab es in diesem Moment nur noch seine Augen und seinen verflucht bezaubernden Blick, unter welchem ich doch immer wieder schwach wurde...

Also musste ich mich ihm hingeben, schlang meine Arme urplötzlich und ohne Vorwarnung um seine Schultern und küsste ihn. Ich legte mich hin und zog ihn auf mich. Meine Schmerzen musste ich für einen Moment nach hinten verdrängen, denn jetzt gab es nur noch Jack und mich. Und es war einfach so verdammt schön mit ihm. Ich wurde noch verrückt! Zugegeben: das war ich schon längst. Verrückt insgesamt, aber ganz vor allem nach ihm.

Always the Sea - Die Abenteuer der Jessie Bones (Fluch der Karibik FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt