36: Schiff voraus!

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Der nächste Tag war auch nicht viel besser gewesen, sprich: genauso deprimierend, wie der letzte. Mitten in der Nacht war ich nämlich aufgestanden, da ich IHN - Jack - nicht mehr neben mir hatte liegen sehen können und war an Deck gegangen. Obwohl es geregnet hatte, war ich wieder hinauf ins Krähennest gekrochen und hatte mich zusammenkauernd gegen den Rand gelehnt. Natürlich hatte ich mir bei dieser unglaublich dummen und beschissenen Aktion eine schöne Erkältung geholt und ER hatte für diese Nacht darauf bestanden, dass ich wieder bei ihm schlafen sollte.

Und nun saß ich hier in Jacks Kajüte in seiner Koje. Zusammengekauert, die Beine an den Oberkörper gepresst, in der einen Hand ein Buch, mit dem ich so tat, als würde ich lesen - obwohl meine Blicke einzig und allein Jack galten, der an dem riesigen Schreibtisch saß und sich über die Seekarten beugte -, in der anderen Hand eine Tasse leckeren, warmen Kräutertee, der gegen meine Erkältung helfen sollte. Ich erwischte mich gerade bei dem Gedanken, Jack würde zu mir kommen und mich gesund küssen - als ob das gehen würde, aye?! - und stellte fest, dass ich nach wie vor ziemlich verliebt in ihn war. Ich vermisste den tiefen Blick in seine braunen Augen, sein freches Piratengrinsen, seine Lippen, seinen schönen Körper, und sogar seinen eigentlich recht seltsamen Geruch - eine Mischung aus Freiheit, Meer, Rum, Karibik und Pirat (wie auch immer Pirat roch) -, seine weichen Hände, wobei ich mich immer noch fragte, wie er das schaffte, seine schöne dunkle Stimme - oder kurz gesagt: ihn.

Ich seufzte schwer und nippte am Tee. Mein Seufzen hatte Jack zu mir herumwirbeln lassen.

"Alles klar?", erkundigte er sich.

Wie süß, er sorgte sich um mich. Halt! Keine falschen Gedanken, Jessie. Du hast dich von ihm getrennt und jetzt fang nicht an es zu bereuen. Zugegeben: das hatte ich schon längst. Ich bereute es. Aber ich brauchte trotzdem einfach Abstand von ihm, weil er mich eben sehr verletzt hatte. Ich brauchte etwas Zeit. Dann bemerkte ich, dass er mich durchdringend ansah. Oh, verflucht, er erwartete ja eine Antwort von mir.

"Ja, das ähm... Buch ist romantisch..." Oh wow, ich war wirklich kreativ.

Jacks linke Augenbraue schnellte in die Höhe. "Darf ich Euch daran erinnern, Miss Bones, dass das ein Buch über Schiffe und wie sie gebaut werden ist? Außerdem haltet Ihr erwähntes Buch falsch herum."

Seine Augen wanderten herab auf das Buch. Mein Blick senkte sich ebenfalls. Er hatte Recht. Oh, ich Volltrottel! Wie konnte man nur so blöd sein?

Jack sah mir nun wieder strikt in die Augen. "Kann es sein, dass Ihr gar nicht lest, sondern nur so tut und mir die ganze Zeit Blicke zuwerft und mir auf den Rücken starrt?"

Woher wusste er das? Empört tuend klappte ich das Buch zu, legte es wortlos unter das Kopfkissen und trank die Tasse Tee leer, welche ich daraufhin auf dem Nachttisch abstellte. Dann legte ich mich hin, machte es mir gemütlich und zog die Decke bis ans Kinn.

"Ich seh schon. Müdes Mädchen ist nicht sehr gesprächig, hab ich Recht?!", neckte mich Jack.

"Halt die Klappe, Jack. Ich will schlafen." Doch an schlafen konnte ich nicht einmal denken.

Jack erhob sich von seinem Stuhl, kam zu mir und hockte sich vor die Koje. Dabei sah er mir eindringlich in die Augen. "Hör mal, Liebes, verzeiht, Miss Bones, solange Ihr noch hier seid, möchte ich normal mit Euch umgehen können. Freundschaftlich... Versteht ihr?"

Freundschaftlich? Meine Augenbrauen hoben sich dermaßen in die Höhe, sodass ich mir ernsthaft Sorgen machte, sie könnten unter meinem Skalp verschwinden. "Lasst mich eine Nacht darüber schlafen, Captain Sparrow. Oder auch zwei", sagte ich und gähnte gespielt.

Dann drehte ich ihm den Rücken zu und starrte diese ach-so-interessante Wand an. Himmel, war diese ach-so-interessante Wand interessant, so unerwartet interessant! Ich verdrehte die Augen. Wenigstens waren die heute mal nicht tränendurchtränkt. Noch mehr Probleme und sonstige nervende Dinge konnte ich nämlich nicht mehr auf mich nehmen. Ich meine, irgendwann würde ich doch vor Gefühlschaos platzen!

Doch - was für eine Überraschung - beim Anstarren der ach-so-interessanten Wand, war ich doch glatt eingeschlafen, obwohl ich gar nicht richtig müde gewesen war. Gewieft, das sollte ich öfter können.





So fand ich mich also am nächsten Morgen ausgeschlafen an der frischen Luft wieder. Ich war bereits aufgestanden und hatte die Flügeltür geöffnet, um die frische Meeresbrise einatmen zu können. Das tat gut. Wenigstens gab es noch diese eine erfreuliche Sache.

"Schiff voraus!", hörte ich dann einen Matrosen rufen und er eilte zum Achterdeck.

Wie bitte?! Schiff voraus? Ich rannte auf den Hauptmast zu, kletterte ins Krähennest und hielt mir hektisch und hibbelig das vergessene Fernrohr ans Auge. Ich suchte den Horizont ab. Da! Tatsächlich ein Schiff. Ich drehte etwas an dem Fernrohr, um näher heran zu kommen und zu sehen, wer so an Bord war. Meine Vermutung wurde wahr. Nein, das konnte doch wohl nicht wahr sein! Vater! Vor uns war tatsächlich Captain Til Bones aufgetaucht. Na das konnte ja heiter werden. Ich lachte halbherzig. Gleich würde es Krieg geben. Das wusste ich, ohne einen Blick in die Zukunft zu werfen - oder auf Krebsarme, wie es diese komische Hexe oder Göttin, Tia Dalma oder Calypso, von der man auch immer ziemlich merkwürdige Geschichten hörte, immer tat. Ich kannte schließlich meinen Vater. Und ich kannte Jack. Das ging garantiert nicht gut mit den beiden. Und die beiden Schiffe kamen sich immer näher. Ich machte mich auf den Weg herunter vom Krähennest und ging auf Jack zu.

"Sparrow", sagte ich, als ich neben ihm zum Stehen kam. "Auf diesem Schiff befindet sich Captain Til Bones."

"Das ist interessant", kommentierte Jack, ohne mich wirklich anzusehen.

Toll! Mehr fällt dir nicht dazu ein, Liebling? Er würde mich loswerden, hatte er daran schon gedacht? Wohl nicht, aye?! Dann war es wirklich besser, wenn ich ging.

Und als wenn er meine Gedanken gelesen hätte, fragte er: "Also Ihr wollt wirklich zu Eurem Vater zurück, Miss Bones?"

"Aye", sagte ich zögernd.

"Gut", sagte Jack bloß. "Dann sei es so."

Und schon standen sich die Pearl und das neue Schiff meines Vaters gegenüber. Jack trat an die Reling. Ich sah, wie sich drüben etwas bewegte und die Piraten Platz für einen Hut - mehr konnte ich nicht erkennen - machten. Der Hut trat vor und unter ihm befand sich der Kopf und Körper eines Mannes, den ich sehr liebte - Vater!

Always the Sea - Die Abenteuer der Jessie Bones (Fluch der Karibik FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt