47: Vermissen

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Ich schlug die Augen auf. Das erste, was ich spürte, war Schmerz. Abscheulich! In meinem Arm, in meinem Kopf, in meinem Rücken, in meinem Herzen... Oh Gott! Wie konnte man einen Menschen nur so sehr vermissen, dass einem dadurch ein richtiger Dorn tief und schmerzvoll im Herz steckte und es voll mit Kummer und Trauer erfüllte? Vielleicht war das etwas übertrieben dargestellt, aber... ich fühlte mich ungefähr so. Denn es war nicht gerade schön ohne Jack. Noch dazu in einer Zelle. Ich seufzte tief.

"Na, wieder wach, Kleines?", hörte ich eine leicht amüsierte Stimme neben mir.

Ich drehte meinen Kopf zur Seite und betrachtete Hendric. Ich hatte ganz vergessen, dass auch er hier mit mir leiden musste - mehr oder weniger, denn schließlich hatte er keinen Jack, den er vermissen konnte.

"Wie lange war ich diesmal weg?", wollte ich wissen, wobei es mich ehrlich gesagt nicht sonderlich interessierte.

"Hast deinen Rekord nicht ganz gebrochen, Jessie", antwortete Hendric. "Etwas mehr als zwei Tage."

"Wie kann man nur so verschlafen sein?", murmelte ich und gähnte. "Himmel! Ich bin immer noch müde."

"Du wirst wahrscheinlich nicht die ganze Zeit geschlafen haben", vermutete Hendric. "Du kannst dich sicher nur nicht daran erinnern für ein paar Minuten wach gewesen zu sein. Und außerdem ist man automatisch viel müder, wenn man zu viel schläft und sonst auch gar nichts macht. Du bist erschöpft vom erschöpft sein, vermute ich. Und vom traurig sein. Und vom Jack vermissen."

Ich nickte. Das klang recht logisch. "Wahrscheinlich", murmelte ich.

"Du siehst schrecklich aus", stellte Hendric fest und musterte mich besorgt.

"Oh, vielen Dank", sagte ich mit vor Ironie triefender Stimme. "Ich hab dich auch lieb, Hendric."

"Nein, so war das nicht gemeint, ich meine... du siehst nämlich wirklich schrecklich aus. Du hast richtig dunkle Ränder unter den Augen und überall Tränenspuren und du bist ziemlich blass!" Er sah sichtlich besorgt aus. "Ich mache mir echt Sorgen."

"Ja, super! Deprimier mich noch mehr, ich hab ja nichts besseres zu tun, als rumzusitzen, heulen und schlafen!", meinte ich gekränkt.

"Tut mir Leid, Jessie", sagte Hendric.

Ich winkte bloß ab und ließ meinen Blick durch die Zelle wandern. Direkt an der Tür sah ich eine Schale mit Suppe, eine Scheibe Brot und einen Löffel. Plötzlich verspürte ich ein mächtiges Hungergefühl. Auf einmal. Schließlich hatte ich seit Tagen nichts gegessen. Das war nicht gerade gesund. Geschwächt vom vielen Schlafen und der wenigen Essensaufnahme in den letzten Tagen, kroch ich auf das Essen zu. Irgendwas musste ich ja essen und irgendwann musste ich ja wieder zu Kräften kommen, aye?! Mit Mühe, Not und viel Kraftaufwand erreichte ich die Schale und griff nach dem Brot. Vorsichtig biss ich hinein.

"Ouch! Das ist steinhart!", meckerte ich.

"Es vegetiert da ja schon einige Tage vor sich hin", klärte Hendric mich auf.

"Na super", kommentierte ich und beförderte mir etwas von der Suppe auf den Löffel. Dann hob ich den Löffel an den Mund und schlürfte die Suppe herunter. "Igitt! Die ist ja ganz kalt."

"Hast du noch mehr zu meckern, Prinzessin?", ertönte eine Stimme aus der hintersten Ecke des Kerkerflures.

"Halt den Rand", gab ich zurück, obwohl ich nicht einmal wusste, wer das da hinten war. Ich kümmerte mich auch nicht weiter darum und meine Aufmerksamkeit galt wieder der Suppe.

Und wenig später hatte ich es dann tatsächlich geschafft, dieses Zeugs herunter zu würgen. Es hatte wirklich widerlich geschmeckt. Die Pink Pearl brauchte dringend einen vernünftigen Koch!

"Wann gibt es das nächste mal etwas zu essen?", fragte ich Hendric.

"Morgen", antwortete er. "Eine Mahlzeit pro Tag genügt ja für dreckige Zellenhocker", fügte er sarkastisch hinzu.

"Idioten", murmelte ich und machte es mir halbwegs bequem; soweit das in einer Zelle eben möglich war.

Ich fühlte mich wie ein zusammengefegtes, aber vergessenes, nicht entsorgtes Häufchen Elend. Minderwertig, unwürdig, wie eine kleine Kakerlake, die beim Deck schrubben gestört hatte und einfach weggestoßen worden war. Und es war grausam. Nein, ich übertrieb nicht. Ich fühlte mich richtig erbärmlich und mies. Und wie sehr ich Jack vermisste! Er fehlte mir einfach so unfassbar doll. Ich vermisste ihn so sehr. Und ich brauchte ihn an meiner Seite. Es tat sogar weh. Ich hatte mir in den letzten Tagen schon so oft gewünscht, er wäre hier, ich hatte sogar schon von ihm geträumt. Und die Zeit schien zu kriechen. Und mir war mal wieder sehr nach weinen zu Mute. Das passierte mir in letzter Zeit irgendwie ziemlich häufig und irgendwie war ich dadurch auch sehr von mir selbst genervt. Dieses verdammte Drama. Ich mochte dramatische Dinge nicht. Es war einfach nur total doof. Und je mehr ich über die jetzige Situation nachdachte, desto trauriger machte es mich und desto mehr wollte ich weinen. Und irgendwann liefen die Tränen aus meinen Augen. Stumm weinte ich vor mich hin und fragte mich, wie es Jack wohl so bei meinem Vater ergehen würde. Würde er es gut überstehen? War er wohl sehr einsam? Ich wusste es nicht.

Always the Sea - Die Abenteuer der Jessie Bones (Fluch der Karibik FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt