99: Der Klang einer Gitarre

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Gelangweilt saß ich auf den Stufen, die hinauf zum Achterdeck führten. Als ich keine Lust mehr zum Steuern gehabt hatte, hatte ich ein Crewmitglied namens Taylor dazu verdonnert. Aber hier rumzusitzen war nicht gerade sehr produktiv, also beschloss ich, mich ein wenig auf meinem neuen - vorübergehend eigenen - Schiff umzusehen. Also ging ich unter Deck. Erst nach ganz unten.

Dort fand ich die Zellen vor. In ihnen hockten armselige Gefangene. Ich ging den Flur zwischen den Zellen entlang. Mit leicht zusammengekniffenen Augen schritt ich stolz daher und musterte die Leute. Als ich am Ende des Ganges ankam, blieb ich stehen und drehte mich auf dem Absatz um.

"Alle mal hergehört, ihr Gefangenen!", rief ich und alle Gefangenen eilten an die Zellentüren, um einen Blick auf mich zu erhaschen. "Davy Jones ist tot. Mein Name ist Bones und ich bin die neue Kapitänin hier, klar soweit?!" Die Gefangenen nickten und ich fuhr fort. "Da dieses Schiff äußerst dreckig und...", Ich berührte eine Wand und verzog das Gesicht. "...widerlich schleimig ist, möchte ich, dass es geputzt wird."

"Typisch Frau", hörte ich jemanden murmeln; ich ignorierte ihn gekonnt.

"Da die verlausten Deckaffen von Crew da oben es nicht allein schaffen, möchte ich, dass ihr ihnen helft, klar soweit?! Ihr kommt mit nach oben und helft beim Putzen. Ihr seid von nun an keine Gefangenen mehr, sondern Crewmitglieder. Und wer sich dagegen wehrt, wird auf einer hübschen, kleinen Insel ausgesetzt. Mitten im Ozean. Haben wir uns verstanden?!" Nun hatte ich mir wohl ordentlich den nötigen Respekt verschafft. Hoffte ich jedenfalls. "Also, ich erwarte euch in fünf Minuten oben." Damit schritt ich wieder durch den Flur zurück zur Treppe.

"Ähm... Captain?", sagte dann jemand. "Wir sind eingesperrt. Ihr müsst uns schon hier raus holen, wenn wir helfen sollen."

"Oh, ach ja...", meinte ich, griff nach dem an der Wand hängenden Schlüsselbund und schloss jede Zelle auf - typisch ich.

Die Gefangenen - oder eher gesagt: die frisch gebackenen (ich konnte zwar weder kochen noch backen, aber das hatte ich noch zu Stande bringen können) Crewmitglieder - gingen nach oben. Ich ging eine Etage höher und fand mich nun im Schlafraum der Crew wider. Es stank nach dreckigen Piratenklamotten, Rum und... Schleim - wie auch immer Schleim roch. Ich sah mich um. In einer Ecke stand eine Gitarre. Sie sah zwar noch relativ neu aus, war aber ziemlich verstaubt. Sollte ich...? Ja! Ich ging auf die Gitarre zu und nahm sie dann mit nach oben aufs Deck.

Ich setzte mich wieder auf die Stufen zum Achterdeck, legte die Gitarre auf meinen Beinen ab und pustete den Staub von dem Holz, aus dem Schallloch und von den Saiten. Das Holz war schön dunkel und um das Schallloch herum waren schwarze Verzierungen eingraviert. Ich strich vorsichtig darüber. Ein schönes Instrument. Hendric konnte Gitarre spielen. Als ich sieben Jahre alt war, hatte er mir täglich ein paar Griffe beigebracht und nur wenige Wochen später hatte ich mein erstes Lied spielen können. Das letzte mal, dass ich Gitarre gespielt hatte, war außerdem gar nicht mal so lange her.

Ich legte die Gitarre nun so auf mein rechtes Bein, dass mein Oberschenkel genau in der Kurve des Gitarrencorpi Platz fand. Ich legte meine rechte Hand auf die sechs Saiten. Meine linke Hand befand sich oben am Wirbel. Vorsichtig zupfte ich mit dem Daumen die dunkle E-Saite. Ein schöner, tiefer Ton erklang. Sehr schön, sie war also gestimmt! Danach zupfte ich die A-Saite, dann die D-Saite, dann die G-Saite, dann die H-Saite und zum Schluss die hohe E-Saite. Und es kam ein wunderschönes Gefühl in mir hoch. Das Gefühl von früher, als ich vor der gesamten Crew und meinem Vater mein erstes Gitarrenkonzert gegeben hatte. Und als Hendric so super stolz auf mich gewesen war, da ich so schnell von ihm gelernt hatte. Ich lächelte. Dann spielte ich mehrere Saiten gleichzeitig, indem ich einfach mit allen Fingern über die Saiten strich. Hin und her. Hin und her. Dann kam auch meine linke Hand zum Einsatz. Sie begann, Töne zu Greifen. Im ersten Bund, im zweiten Bund, im dritten Bund, bis die Töne zu Akkorden wurden... meine Hände gewöhnten sich wieder an die Gitarre und an das Spielen und es fühlte sich gut an.

Nach kurzer Zeit war deutlich eine Melodie zu erkennen. Ich mochte diese Melodie. Sie war mir gerade eben in den Kopf gekommen. Ich spielte sie mehrmals hintereinander.

Dann begann ich, zu der Gitarrenmelodie zu singen: "I should've known better, now I miss you like Sahara misses rain. Changing like the weather. Maybe it's true, maybe you're not gonna change. I feel like you have two homes, yet I feel you are homeless where we live I feel like a stranger, when you're home I feel even stranger. I live in no man's land with no way home like you don't understand 'cause you're so here, you're so there, not really anywhere."

Ich dachte an Jack. Und es passte: ich hätte es besser wissen müssen. Ich hätte wissen müssen, dass ich Davy Jones' Pflichten übernehmen musste, wenn ich ihn umbrachte. Theoretisch hatte ich es auch gewusst. Aber praktisch hatte mein Hirn mal wieder ziemlichen Mist gebaut, wie so oft. Ich hatte einfach mal wieder intuitiv gehandelt, ohne nachzudenken. Und jetzt vermisste ich ihn. Sehr. Eigentlich sogar mehr als sehr, um ehrlich zu sein. Es war aber mal wieder alles meine Schuld. Meine eigene Dummheit und Voreiligkeit. Ich bereute es so sehr. Ich wollte das hier alles nicht. Wenn ich wenigsten jemanden hätte, mit dem ich reden konnte...

"Lala lala, lala lala", sang ich in der Melodie weiter. "Should've known better, now I miss you like Sahara misses rain. Changing like the weather. Maybe it's true, maybe we're not gonna change. Should've known better, should've known better." Ich beendete das Lied und auch der letzte Gitarrenton verklang.

Ich lächelte traurig und hoffte, dass sich noch alles zum Guten wenden würde. Jack hatte es mir versprochen. Und ich glaubte fest an ihn. Ich seufzte, klimperte weiter auf der Gitarre herum und starrte abwesend und verträumt umher. Ich konnte nichts anderes tun als abwarten. Nichts. Hoffentlich fand Jack Tia Dalma bald. Ich hatte hier jetzt zwar eine Gitarre und so würde keine Langeweile aufkommen, aber ich vermisste meinen Jack. Und das konnte man doch nur zu gut verstehen, oder?

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Lied: Soluna Samay - Should've Known Better

Always the Sea - Die Abenteuer der Jessie Bones (Fluch der Karibik FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt