46: Kannst du meine Hand halten?

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Als Hendric zu Ende erzählt hatte, blickte ich ihn erst ungläubig an. Dann realisierte ich, dass das Ganze eigentlich ganz logisch war und fing urplötzlich an zu weinen, da die Gesamtsituation einfach nur zum weinen war. Hendric streckte seinen Arm durch die Gitterstäbe und tätschelte mir tröstend die Schulter. Jack war in der Gewalt meines Vaters! Das bedeutete so viel wie: er war in Lebensgefahr! Mein Vater hegte einen solchen Hass auf Jack, dass er ihn sogar umbringen würde. Bestimmt würde er tagtäglich gefoltert werden und keine Jessie, die sich für ihn einsetzte und ihn unterstützte, war für ihn da. Ich hatte ja noch Hendric, aber Jack hatte niemanden. Das heißt, wenn mein Vater nicht über alles, was ich ihm zum Abschied gesagt hatte, nachgedacht hatte.

"Hendric", schluchzte ich. "Danke, dass du da bist."

"Ich weiß, Kleines, niemand kann dir deinen Jack ersetzen, aber ich werde alles dafür tun, dich wieder halbwegs glücklich zu machen. Dein Lächeln ist mir mehr wert, als alles andere."

Ich sah Hendric mit einem blassen Anschein eines Lächelns aus meinen nassen, blauen Augen dankbar an. "Danke, Hendric. Danke für alles. Du bist der Beste."

"Es ist in Ordnung, Jessie."

Mein sachtes Lächeln hellte sich etwas auf. "Hast du was dagegen, wenn ich singe?"

"Ja", antwortete er und sah mich ernst an.

"Oh."

Hendric verdrehte die Augen. "Natürlich nicht."

"Oh, das war nicht ernst gemeint?" Ich hob unschuldig die Augenbrauen.

Hendric schüttelte, anscheinend zweifelnd an meinem Verstand, den Kopf. "Ich singe sogar mit."

"Das freut mich sehr, Hendric", sagte ich wahrheitsgetreu, holte dann tief Luft, begann mit beiden Händen einen Rhythmus zu schnipsen und begann mit leiser, leicht zitternder Stimme: "I know you're somewhere out there, somewhere far away. I want you back."

"The people think I'm crazy, but they don't understand. You're all I have", sang Hendric; er begann zu meinem Schnipsrhythmus leicht in die Hände zu klatschen und mit dem Fuß zu wippen."They say I've gone mad."

"But they don't know what I know 'cause when the sun goes down someone's talking back", sang ich. "At night when the stars light up my room I sit by myself talking to the moon, tryin' to get to you."

"In hopes you're on the other side talking to me, too. Or am I a fool who sits alone talking to the moon?", sang Hendric.

"Every night I'm talking to the moon", sangen wir dann noch einmal den Refrain zusammen; ich musste ehrlich zugeben, dass es bezaubernd klang, wenn Hendric mit seiner wundervollen Stimme mit mir sang. "Still tryin' to get to you. In hopes you're on the other side talking to me, too. Or am I a fool who sits alone talking to the moon?"

"I know you're somewhere out there", sang ich wieder allein. "Somewhere far away."

Als dann der letzte Ton meiner Stimme im widerhallendem Kerker langsam verhallte, rannen mir die Tränen über die Wangen. Ich vermisste Jack jetzt schon. Und das war schrecklich.

"Hendric, eins solltest du wissen: du sollst Jack gar nicht ersetzen, ja? Und bitte rede nicht von ihm. Das macht mir alles nur noch schwerer, weißt du? Ich kann an sich schon nicht ohne ihn und wenn ich mir das alles auch noch anhören muss, wird es noch schlimmer. Trotzdem danke für deine gut gemeinten, tröstenden Worte", meinte ich und schniefte.

"Gerne, Kleines. Ich werde dich verschonen. Und am besten isst du jetzt endlich mal etwas. Da steht noch Suppe und Brot für dich. Falls die Ratten sich nicht schon darüber hergemacht haben", meinte Hendric grinsend.

"Ratten?", stieß ich aus und sah ihn erschrocken an.

"Das war doch nur Spaß, Kleines", grinste er.

"Na dann. Ich habe trotzdem keinen Hunger", antwortete ich. "Ich will einfach nur noch schlafen. Und warten bis das alles hier vorbei ist." Ich seufzte.

"Das hast du doch die letzten drei Tage schon getan", gab Hendric zu bedenken.

"Egal, ich bin müde. Außerdem muss ich so nicht die ganze Zeit in Kummer und Selbstmitleid versinken, weil ich Jack vermisse", rechtfertigte ich mich und legte mich wieder auf den kühlen Boden.

Hendric seufzte. Ich sah, dass auch er sich nun hinlegte. Noch lange blickten wir uns an. Stille. Stille und stumme Blicke. Ich beobachtete seine Augen. Sie waren echt schön - wie eigentlich alles an Hendric. Seine Iris hatte eine wundervolle Musterung und die Grüntöne wechselten sich perfekt ab. Hendric pustete sich gerade eine seiner roten Strähnen aus dem Gesicht; ich kicherte kurz auf. Hendric grinste leicht und warf mir einen Luftkuss zu. Ich lächelte und folgte seinem Beispiel.

Dann fragte ich: "Kannst du meine Hand halten, Hendric?"

Hendric lächelte leicht. "Wie damals, als du noch ein kleines Mädchen gewesen bist und ich dich ins Bett gebracht habe?"

Ich erwiderte ein schwaches, trauriges Lächeln. "Aye, wie damals."

Hendric ergriff meine Hand und streichelte sanft darüber. Er hatte immer warme Hände; meine hingegen waren so gut wie immer kalt. Ich schloss die Augen. Hendrics Hand zu halten war wundervoll. Jetzt konnte ich schlafen. Wie damals...

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Lied: Bruno Mars - Talking To The Moon

Always the Sea - Die Abenteuer der Jessie Bones (Fluch der Karibik FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt