♡164. Reflexe

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Harry nahm einen Schluck seines Butterbiers, bevor er Sirius erneut ansah.
„Als ich dich das erste Mal gesehen habe, damals in der Heulenden Hütte, hatte ich das Gefühl, vor mir steht ein gebrochener Mann", sagte er dann leise. „Deine Augen – sie waren so stumpf. Ich habe es zuerst nicht verstanden, schließlich musste ich zu diesem Zeitpunkt noch davon ausgehen, dass du..." Harry stockte kurz. „Nein, eigentlich hätte ich nicht davon ausgehen dürfen. Ich habe mir immer eingebildet, keine Vorurteile zu haben, dennoch habe ich einfach den Geschichten anderer geglaubt. Aber ich war so wütend, Sirius. Ich konnte einfach nicht verstehen, wie jemand, der meinen Eltern so nahe stand, sie einfach so verraten konnte."
„Ich habe das bis heute nicht verstanden, Harry", sagte Sirius mit rauer Stimme. Es war deutlich zu spüren, dass es ihm immer noch nahe ging. „Und ich glaube, deine Eltern auch nicht. Allerdings muss ich zugeben, dass Peter zwar unser Freund war, James und ich ihn aber oft nicht ernst genommen haben. Wir haben ihn auch in den ersten Schuljahren mehr als einmal gehänselt und darauf bin ich wirklich nicht stolz. So richtig geändert hat sich das erst, als deine Eltern Freundschaft geschlossen haben und später dann mehr daraus geworden ist. Lily hat es immer gehasst, wenn man Schwächere angreift und genau wie Dorcas hätte sie uns die Hölle heiß gemacht, wenn sie etwas in dieser Richtung mitbekommen hätte." Ein Lächeln schlich sich auf sein Gesicht, welches aber ebenso schnell verschwand, wie es erschienen war. Eine Weile schien Sirius mit seinen Erinnerungen zu kämpfen, seine Augen verdunkelten sich, während er erneut auf das Meer starrte. „Ich war definitiv ein gebrochener Mann damals, Harry, dein Eindruck hat dich nicht getäuscht. Der 31. Oktober hat mir mehr genommen, als du zu ahnen glaubst." Sirius' Stimme brach. Er war für einen Moment nicht in der Lage weiterzusprechen. „Vielleicht ist es an der Zeit, dass du erfährst, was an diesem Tag wirklich passiert ist, damit du verstehst, wie es zu all dem kommen konnte und was du wirklich verhindert hast. Niemand kennt diese Geschichte, Harry, außer Dumbledore hat sich vielleicht Teile davon zusammengereimtund er kann sich ja an die Vergangenheit erinnern. Ich möchte, dass es so bleibt. Ich teile meine Erinnerungen mit dir, weil es wichtig ist, dass du verstehst, aber ich habe nicht ohne Grund in den letzten Jahren geschwiegen."
Harry erinnerte sich an die Überraschung im Gesicht seiner Eltern, als er sie für tot gehalten hatte. Nicht nur Sirius hatte geschwiegen, auch alle anderen, die Erinnerungen mit sich herumtrugen und ehrlicherweise wäre Harry froh gewesen, wenn er die auch alle tief in seinem Kopf vergraben könnte und nie mehr auspacken müsste. Langsam nickte er. Er hatte Sirius sehr gut verstanden.
„Ich habe leider kein eigenes Denkarium. Mein Kopf ist einfach nicht so voll wie die der Genies." Sirius grinste, auch wenn es sehr gezwungen wirkte. „Aber ich bin mir sicher, Lily und James werden uns ihres sicherlich gerne zur Verfügung stellen und ich komme morgen Abend einfach mal vorbei, allerdings nur, wenn du das möchtest."
Harry ahnte, wie schwer es Sirius fallen musste, diese Erinnerungen überhaupt mit jemanden zu teilen und vielleicht war er genau der Richtige. Jener Tag im Oktober war für sie beide der grauenhafte Wendepunkt ihres Lebens gewesen, in einer Zeit in der damals alle gefeiert hatten und heute konnte sich niemand mehr an ihre Verluste erinnern.
„Es würde mir viel bedeuten, wenn du diese Erinnerung mit mir teilst, Sirius."
Die grauen Augen seines Patenonkels ruhten eine Weile auf ihm, bevor er sich schließlich erhob und den Sand von den Muggeljeans klopfte, die er trug. Diese zusammen mit dem dunkelblauen Poloshirt, das Sirius gewählt hatte, ließen ihn fast jugendlich wirken. Während Harry die Hand ergriff, die er ihm entgegenstreckte, musterte er Sirius. Die Haare waren deutlich kürzer als früher, das Funkeln in den Augen, die Kleidung... Nichts erinnerte mehr an der zerlumpten Mann, den er in der anderen Vergangenheit gekannt hatte.
„Bevor Dorcas gleich eine Vermisstenmeldung aufgibt, würde ich vorschlagen, dass wir reingehen. Bleibst du zum Abendessen?"
Harry schüttelte leicht den Kopf. „Heute nicht, Sirius. Ich bin schon den ganzen Tag unterwegs und möchte nicht, dass meine Familie sich Sorgen macht. Außerdem ist es noch etwas viel für mich, wenn ich den ganzen Abend Personen gegenüber sitzen muss, an die ich mich überhaupt nicht erinnern kann."
„Entschuldige, daran hatte ich nicht gedacht. Dein Geburtstag muss sehr seltsam für dich gewesen sein", sagte Sirius mitfühlend.
„Seltsam beschreibt es treffend." Harry verzog das Gesicht. „Unzählige Menschen, die ich zwar kannte und irgendwie doch nicht und dazu jede Menge Unbekannte. Dann Dads Bekanntmachung, dass ich in die Fußstapfen der Familie treten werde und dazu die ganzen seltsamen Gespräche, die ich an diesem Abend aufgeschnappt habe."
„Seltsame Gespräche?" Sirius wirkte sichtlich irritiert.
„Nicht so wichtig", wiegelte Harry ab. Aus irgendeinem Grund fühlte er sich hier und jetzt nicht bereit, mehr über die Gegenwart zu erfahren und wollte Sirius nicht mit Fragen dazu löchern. Seine Eltern hatten sicherlich gute Gründe, ihm derzeit nicht mehr über die politische Lage zu verraten und er würde warten, bis sie mehr Details preisgeben würden. Bis dahin hatte er genug damit zu tun, die Vergangenheit zu erkunden. „Darf ich dir noch eine Frage stellen, Sirius?"
„Natürlich, Harry, frag mich, was du möchtest."
„Bist du glücklich damit, wie jetzt alles ist?"
Erstaunt blieb Sirius stehen und blickte Harry durchdringend an.
„Bei Merlin, Harry." Er deutete auf die großen Terassenfenster, durch die Dorcas und Sirius' beide Söhne in der hell erleuchteten Küche gut zu erkennen waren. Corvus und Regulus deckten gerade den Tisch, während Dorcas mit dem Rücken am Herd lehnte. Sie sagte irgendetwas, woraufhin ihre Söhne lachen mußten. „Sieh sie dir an, Harry. Ich bin mit mehr gesegnet worden, als ich jemals zu hoffen gewagt hatte. Glücklich ist gar kein Ausdruck."
Im Inneren des Hauses ging die Tür auf und eine weitere Person betrat die Küche, wurde mit freudigem Strahlen begrüßt. Harry riss die Augen auf, als er die Person erkannte.
„Vielen Dank für deine Zeit und die offenen Worte, Sirius. Ich denke, ich sollte jetzt langsam aufbrechen, bevor Mom und Dad sich Sorgen machen. Wir sehen uns morgen", sagte er hastig, umarmte Sirius und disapparierte, bevor sein Patenonkel auch nur ein weiteres Wort hervorbringen konnte.

Anders als zwei Abende zuvor - nach seiner überstürzten Flucht zum Fuchsbau – war sein Elternhaus dieses Mal voller Leben, als er die Tür öffnete, und die Szene, die ihn erwartete, erinnerte ihn sehr an jene, die er im Hause Black beobachtet hatte. Hier war es Morgan, die den Tisch deckte, während James den beiden Frauen gerade von seinem Tag berichtete, rührte Lily – ganz ohne Magie – in einem großen Topf. Die drei wirkten so vertraut miteinander, dass er sich wie ein Eindringling fühlte.
Was hatte er schon hier verloren? Ohne Erinnerung an diese Familie?
„Hallo Harry!", begrüßte ihn allerdings Morgan, die seine Anwesenheit gespürt zu haben schien, und riss ihn damit aus seinen düsteren Gedanken. „Gut, dass du da bist, dann kannst du gleich helfen."
Bevor er etwas erwidern konnte, warf sie ihm ohne Vorwarnung einen Gegenstand zu, den Harry geschickt auffing. James stand daneben und grinste.
„Morgan", entfuhr es Lily tadelnd. Harry warf einen Blick auf den Gegenstand in seiner Hand. Es war eines der Gläser, die eigentlich auf dem Tisch stehen sollten.
„Was denn? Er hat so griesgrämig geschaut, da wollt ich mal testen, ob seine Reflexe funktionieren." Morgan sah ihre Mutter mit großen Augen an.
„Und du glaubst, ich falle noch auf deine Unschuldsnummer rein?" Lilys Stimme klang ungewohnt streng. „Du weißt, dass du dir das hier sparen kannst. Kenne ich von deinem Vater, hat bei mir schon in der ersten Klasse nicht funktioniert." Sie zog ihre Stirn kraus. „Aber heute lasse ich es dir mal durchgehen." Mit zusammengekniffenen Augen sah sie ihren Sohn an. „Alles in Ordnung bei dir Harry?"
Das Gefühl der Nichtzugehörigkeit hatte sich komplett verflüchtigt und etwas anderem Platz gemacht. Vielleicht zum aller ersten Mal in seinem Leben hatte er das Gefühl, wirklich nach Hause zu kommen, und das war einzig und allein Morgan zu verdanken. Sie hatte mit einem Blick seine Stimmung erfasst und zum Gegenmittel gegriffen.
„Ja, es geht mir gut, ich bin nur etwas müde."
Harry zwinkerte seiner Schwester zu.
„Ziemlich gute Reflexe für jemanden, der müde ist", sagte James leise, als sich Lily wieder dem Herd zugewandt hatte.

James Potter und das Erbe GryffindorsOpowieści tętniące życiem. Odkryj je teraz