♡139. Vergessene Erinnerungen

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Bevor Harry etwas erwidern konnte, erklangen Schritte auf der Treppe und Sekunden später stand Morgan mit einem „Guten Morgen" in der Küche. Sie nahm neben Harry am Küchentisch Platz, schnappte sich aber zuvor noch ein Glas Kürbissaft.
„Na, wie fühlt man sich, wenn man alt ist, Bruderherz?", scherzte sie.
„Das hat sie alles von ihrem Vater", verkündete Lily und grinste.
„Wer hat was von mir?"
Keiner hatte gemerkt, dass James aus dem Ministerium zurückgekehrt war und nun im Türrahmen stand.
„Morgans große Klappe kann nur von dir stammen. Ich war immer brav", sagte Lily und ihr Ton duldete keine Widerrede. James grinste nur, hauchte seiner Frau einen Kuss auf die rote Mähne und nahm sich dann ebenfalls ein Glas Kürbissaft, während Lily das Frühstück für Morgan zubereitete.
James lehnte sich gegen den Küchentresen und blickte seinen Sohn an.
„Alles in Ordnung bei dir?"
Harry nickte langsam. Sein Vater trug einen langen, schwarzen und sehr auffälligen Umhang. Auf der Brust prangte das aufgestickte Emblem des Ministeriums. Vielleicht zum ersten Mal realisierte Harry, dass er nicht mehr die Menschen aus den Erinnerungen vor sich hatte. Sein Vater wirkte so verantwortungsbewusst, so reif und so väterlich...
Dies hier war keine Illusion, kein Streich seines Gehirns. Seine Eltern waren wirklich da, ebenso wie seine kleine Schwester, die ihn mit dem gleichen irritierten Blick ansah, den er von seiner Mutter kannte.
„Alles bestens, Dad", bekräftigte er noch einmal.
„Was ist hier los?", fragte Morgan.
James legte seinen Umhang ab und nahm ebenfalls am Küchentisch Platz, dann gab er seinem Sohn ein aufmunterndes Zeichen mit dem Kopf.
„Es ist nicht so einfach, Morgan", begann Harry und berichtete ihr dann in groben Zügen, was sie bisher wussten.
„Du kannst dich also überhaupt nicht an mich erinnern?", schlussfolgerte Morgan, kaum dass er geendet hatte. „Bei Merlin, Harry. Wie kannst du vergessen haben, dass ich dich letztes Jahr beim Training vom Besen geworfen habe? Aber wenn ich es mir recht überlege, hätte ich das an deiner Stelle auch lieber vergessen." Sie grinste. Es war ein Grinsen, das sehr an den jungen James erinnerte und Harry wurde leicht ums Herz. Seine Schwester war frech, lebhaft und mit mehr Selbstbewusstsein ausgestattet, als er es jemals gehabt hatte. Jetzt stand sie allerdings auf, blieb vor Harry stehen und zog ihn in ihre Arme. Und auch wenn er sich nicht an Morgan erinnern konnte, durchflutete ihn eine tiefe Liebe zu diesem kleinen Wirbelwind.
„Es muss furchtbar für dich sein, nicht zu wissen, wer du bist. Aber lass dir eins gesagt sein, Harry. Du warst immer der tollste Bruder, den ich mir habe wünschen können. Wir werden das zusammen schaffen", sprach sie und machte sich kurz darauf über ihr Frühstück her.
„Möchtest du dir gleich weitere Erinnerungen anschauen? Ich muss heute nicht mehr ins Ministerium."
Harry brauchte keine Sekunde, um eine Entscheidung zu fällen.
„Ich hätte einen anderen Wunsch."

Keine Stunde später verließen James und Harry das Haus in Richtung Wald. Auf einer kleinen Lichtung hielten sie schließlich an. James zog seinen Zauberstab aus der Tasche und klopfte erst Harry und dann sich selbst damit leicht auf den Kopf. Sekunden später erhoben sich die beiden auf ihren Besen in die Luft. Harry spürte die vertrauten Bewegungen seines Feuerblitzes und raste hinter seinen Vater her durch den sonnigen Augustmorgen. Innerhalb kürzester Zeit hatten sie Godric's Hollow hinter sich gelassen und jagten weiter hinweg über Wälder, Seen und Wiesen. Erst nach Ewigkeiten schien sein Vater das Tempo zu drosseln und flog direkt neben Harry.
„Ich glaube, jetzt weiß ich endlich, warum ich schon als Kind das Gefühl hatte, für einen Besen geboren worden zu sein. Es geht dir genauso, oder?"
James lächelte.
„Es geht mir eindeutig genauso. Und es war mir jedes Mal ein Vergnügen, dich bei deinen Spielen zu sehen." Er schüttelte den Kopf. „Nein, ehrlicherweise bin ich vor Stolz immer fast geplatzt. Hättest du nicht als Sucher gespielt, hätte ich hin und wieder glauben können, mich selbst auf dem Spielfeld zu sehen. Aber ich bin noch viel stolzer darauf, dass du dich dazu entschieden hast, Auror zu werden. Und zwar nicht, weil du das Gefühl hast, du musst der Tradition folgen, sondern weil du es selbst wirklich willst."
„Ich werde also wirklich Auror?" So richtig glauben konnte Harry das immer noch nicht.
„Harry, schon an der Gründung des Ministeriums waren Mitglieder unserer Familie beteiligt und auch danach haben wir dem Ministerium treu gedient. Ich würde behaupten, das Aurorendasein liegt uns im Blut", sagte sein Vater, um dann mit erstaunlicher Geschwindigkeit davonzurasen .

Erst am Nachmittag kehrten sie nach Hause zurück. Verschwitzt und ausgelaugt, aber glücklich stellte sich Harry zuallererst unter die Dusche. Sein Vater war genau so, wie er ihn sich bei Sirius' und Remus' Erzählungen vorgestellt hatte. Obwohl er zwanzig Jahre älter war als Harry selbst, lenkte er den Besen mit der gleichen Präzision und Geschwindigkeit. Und trotz seiner anspruchsvollen Stellung im Ministerium hatte James sich den Humor und die Lebenslust aus seiner Jugend bewahrt.
Er fand seine Mutter und seine Schwester im Kellerraum des Hauses über einen Kessel gebeugt, aus dem ein Duft nach reifen Kirschen aufstieg. Sie waren so konzentriert, dass sie sein Eintreten überhaupt nicht bemerkt hatten, was ihm die Gelegenheit gab, sie einen Augenblick zu beobachten. So wie er seinem Vater fast aufs Haar glich, so ähnlich waren sich auch seine Mutter und seine Schwester. Beide hatten die gleiche rote Lockenpracht und wie Harry festgestellt hatte, haargenau die gleichen Gesichtszüge. Einzig die Augenfarbe teilten die Geschwister und anscheinend den ein oder anderen Charakterzug.
„Setz dich zu uns, Harry", ertönte in diesem Moment die Stimme seiner Mutter.
„Ich wollte euch nicht stören."
„Du störst nicht, Bruderherz. Komm her", sagte Morgan und zeigte auf den freien Stuhl neben dem Kessel. Harry nahm Platz und warf einen Blick in den Kessel.
„Was braut ihr da?", fragte er neugierig.
„Morgan war den ganzen Vormittag sehr aufgeregt darüber, dass du dich nicht an uns erinnern kannst. Und deshalb war sie drüben bei euren Großeltern und hat sich mit Willow unterhalten. Albus haben sie kurzerhand auch noch dazu geholt, mich schließlich ebenfalls. Und das hier haben wir gefunden."
Lily reichte ihrem Sohn ein altes, vergilbtes Buch.
„Trank der vergessenen Erinnerungen", las Harry. Dann überflog er die Liste der Zutaten, die ihm recht ungewöhnlich vorkamen.
„Es ist ein sehr alter Trank, der wohl seit sehr langer Zeit nicht mehr angewandt wurde. Warum, wissen wir nicht genau. Allerdings hat Willow ebenfalls Aufzeichnungen gefunden, die schildern, dass er wirklich gewirkt hat. Sogar bei Personen, deren Gedächtnis als unwiderruflich zerstört galt. Dieses Buch stammt aus dem Erbe deines Vaters. Ich hatte es mir vor einigen Wochen mit anderen Büchern aus dem Verlies geholt, um sie zu studieren. Interessanterweise verwenden wir heute noch ähnliche Zutaten für Heiltränke, mit denen wir das Gedächtnis von Patienten versuchen wieder herzustellen, bei denen ein Gedächtniszauber nach hinten losgegangen ist. Aber auf diese Kombination und diese Brautechnik wäre ich nie gekommen."
Etwas verunsichert sah Harry auf den Zaubertrank.
„Du glaubst, dass mir dieser Trank helfen kann? Aber ich habe ja nichts vergessen, ich habe diese Vergangenheit nur nie erlebt." Harry wollte keine Hoffnung schöpfen, aus Angst, enttäuscht zu werden.
„Wir haben lange darüber diskutiert, Harry." Lilys Augen funkelten. „Und ich kann dir sagen, wenn Willow und Albus über solche Themen eine Diskussion führen, ist das meistens sehr unterhaltsam und hochinteressant, aber ich weiche vom Thema ab. Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass du die Vergangenheit zwar ebenfalls erlebt hast, aber du dich einfach nur nicht daran erinnern kannst."
„Wir hoffen wirklich, dass dieser Trank dir hilft, Harry", mischte sich nur auch Morgan ein.
„Wie lange wird es dauern, bis er fertig ist?"
„Einige Wochen, fürchte ich. Und eine Garantie, dass er wirkt, gibt es nicht." Lilys Gesichtsausdruck wirkte bekümmert.
„Es ist besser, als keinerlei Hoffnung zu haben." Harry zog beide Frauen in seine Arme. „Ich danke euch dafür, dass ihr es versucht. Das bedeutet mir sehr viel."

„Ah, hier seid ihr alle", sagte James, der soeben zur Tür hinein kam. „Ich habe euch schon gesucht. Aber es sollte mich nicht wundern, dass ihr euch wie so oft hier unten mit einem Zaubertrank versteckt habt." Ein Lächeln lag auf seinem Gesicht, während er seinen Sohn ansah. „Was hältst du davon, wenn wir die beiden Damen alleine lassen und uns weiter Erinnerungen ansehen?"
Harry nickte und sein Vater holte eine kleine Phiole aus dem Schrank.
„Gut, wir gehen nochmal an den Anfang des Tages, an dem deine Mutter nach Hogwarts gefahren ist. Es ist ein wenig später am Tag und dieses Mal ist es, zumindest am Anfang, alleine meine Erinnerung."
Er goss den Inhalt der Phiole ins Denkarium und kurz darauf fanden sie sich an einem anderen Ort wieder.

James Potter und das Erbe GryffindorsDove le storie prendono vita. Scoprilo ora