♡106. Erinnerungen

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Die Küche war in tiefes Schweigen gehüllt, niemand beantwortete Harrys Frage. Ungeduldig schweifte sein Blick durch die Runde.
„Wer?", wiederholte er, dieses Mal mit etwas mehr Vehemenz in seiner Stimme. Lily warf James einen kaum merklichen Blick zu und er nickte leicht.
„Bitte, wir möchten gerne mit unserem Sohn alleine sprechen", sagte sie schließlich. Sofort standen alle auf, ohne ein einziges Zögern oder ihre Bitte in Frage zu stellen.
Alle wissen es, dachte Harry etwas missmutig.
„Diese Frage ist nicht ganz so leicht zu beantworten, Harry." Lily hielt immer noch James' Hand umklammert, als würde es ihr Kraft geben. Wahrscheinlich war es sogar so. Harry konnte sich nicht im Entferntesten ausmalen, wie sich ihre Kräfte in den letzten Jahren entwickelt hatten. Schon in den Erinnerungen waren Lily und James von den stärksten Todessern gefürchtet worden.
„Wir haben immer gewusst, dass diese Frage eines Tages kommen würde, wenn auch in einer etwas anderen Form und haben auch diese Erinnerungen gespeichert. Auch weil wir selbst lange nach Voldemorts Tod nicht sicher sein konnten, dass uns ein rachsüchtiger Todesser jagt. Wir möchten, dass du dir diese Erinnerungen ansiehst. Keine Erzählung dieser Welt kann dir besser beschreiben, was vor siebzehn Jahren passiert ist", fuhr Lily fort und legte dabei ihre andere Hand auf Harrys.
Die warmen Blicke seine Eltern ruhten auf ihm und zum ersten Mal in seinem Leben verstand Harry, was es wirklich bedeutete, eine Familie zu haben. „Eins solltest du immer bedenken, Harry. Für deinen Vater und mich gab es niemals etwas Wichtigeres, als dich zu schützen."
Er lächelte seine Mutter dankbar an.
„Ich möchte die Erinnerungen gerne sehen." James nickte.
„Wir werden dich begleiten und sie gemeinsam mit dir ansehen." Seine Stimme klang klar und fest, bevor er aufstand und dem Rest seiner Familie bedeutete, ihm zu folgen. Als sie in den Flur traten, stellte Harry verwundert fest, dass scheinbar alle gegangen waren, denn das Haus war leer und vollkommen ruhig. James ging voran in den Keller. Harry erinnerte sich an den heutigen Morgen, als er diesen Weg ebenfalls gewählt hatte. Dem Rat des Briefes folgend, war er nach Godric's Hollow zurückgekehrt, um hier an diesem Ort die Geschichte seiner Eltern zu erfahren. Dass er nur wenige Stunden später mit ihnen gemeinsam erneut diesen Weg gehen würde, damit hätte er niemals gerechnet. Sie betraten den Kellerraum, der noch vor wenigen Stunden vollkommen anders ausgesehen hatte. Kalt, leer und verstaubt hatte Harry ihn vorgefunden. Das Arbeitszimmer, welches ihn nun erwartete, wirkte benutzt. Die Möbel waren liebevoll gepflegt. Eine Wand war mit einem deckenhohen Bücherregal versehen, in dem sich Hunderte Bücher befanden. Und in einem etwas abgetrennten Bereich konnte Harry ein loderndes Feuer mit einem Kessel darauf erkennen. Das Denkarium stand direkt neben einer Sitzecke mit einem roten Sofa und einem riesigen Kamin. Ähnlich wie in Dumbledores Büro fanden sich auch in diesem Arbeitszimmer Unmengen an Harry vollkommen unbekannten Gerätschaften und kleinen Fläschchen, deren Inhalt er nicht einmal erraten konnte. Doch sein Blick wurde wie magisch vom Denkarium angezogen. Nichts anderes hatte in diesem Moment Platz in seinen Gedanken. Lily schien die innere Anspannung ihres Sohnes zu spüren und legte ihm ihre schmale Hand auf die Schulter. Unwillkürlich erinnerte sich Harry an seinen ersten Blick in den Spiegel Nerhegeb. Dankbar lächelte er seine Mutter an.

James trat an einen Schrank aus Metall neben dem Bücherregal. Er legte seinen Zauberstab daran und der Schrank öffnete sich. Darin befanden sich unzählige glitzernde und leuchtende Glasamphoren von unterschiedlichster Größe. Er nahm eine heraus und goss den Inhalt in das Denkarium. Dann wandte er sich zu seiner Familie um.
„Wir haben den Schrank aus einem der Familienverliese mitgenommen. Nur Familienmitglieder können ihn öffnen. Vor dem Krieg hatten wir leide keine Zeit mehr, um einen hierherzubringen, daher haben wir unsere Erinnerungen in Gringotts aufbewahren lassen. Doch es ist sinnvoller, die Erinnerungen in der Nähe zu haben, damit man sich hin und wieder ins Gedächtnis rufen kann, was wirklich wichtig ist." Er sah seinem Sohn tief in die Augen. „Was du sehen wirst, Harry, hat niemand vor dir gesehen. Es sind, wie die, die du schon betrachtet hast, die privatesten Erinnerungen, über die deine Mutter und ich verfügen. Vieles davon ist nur ganz wenigen Menschen bekannt. Manches weiß niemand. Es war uns immer wichtig, dass unsere Kinder unsere ganze Geschichte erfahren. Morgan kennt nur einen Teil davon, sie ist noch zu jung, um alles zu erfahren." Harry verstand, was sein Vater ihm sagen wollte. Lily lächelte ihren Sohn aufmunternd an.
„Bereit?" Harry nickte und gemeinsam tauchten sie ab in die Erinnerungen.

Der Ort an dem sie auftauchten, war der gleiche wie in der letzten Erinnerung, die Harry sich angesehen hatte. Das kleine Cottage in Godric's Hollow, welches sie soeben gemeinsam verlassen hatten. Es war Morgen und die Herbstsonne warf ihre bereits leicht fahlen Schatten durch das Küchenfenster. Die junge Version von Lily betrat die Küche und begann, Kaffee zu kochen. Im Raum verstreut standen Kürbisse und auch sonst war der Raum entsprechend dekoriert. Halloween. Harry warf einen schnellen Blick auf einen Kalender, der neben der Küchentür angebracht war. Der 31. Oktober 1981. Der Todestag seiner Eltern! Seine Augen wanderten zu seinen Eltern, die direkt neben ihm standen. James hatte schützend den Arm um seine Frau gelegt und sie wirkten angespannt. Sie lebten, rief er sich ins Gedächtnis. Sie hatten diesen Tag überlebt.
Die junge Lily stand immer noch vor der Kaffeemaschine, so als wüsste sie überhaupt nicht mehr, was sie eigentlich hatte tun wollen. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr. Ihr Gesicht wurde kalkweiß. Das Kaffeemaß fiel klirrend zu Boden und eine Sekunde später rannte Lily aus der Küche.
„James!", hallte ihre Stimme durch das Haus, während sie die Treppen nach oben raste. „Nimm Harry. Pack ein paar Sachen zusammen. Wir müssen hier weg. Sofort." James, der gerade Harry aus seinem Kinderbett nahm, sah seine Frau vollkommen verwirrt an.
„Lily, was...?" Doch Lily unterbrach ihn mit einer Handbewegung.
„Ich erkläre es dir später. Wir müssen hier weg. Sofort." Sie hob den Zauberstab und wenig später flogen Unmengen an Kleidung in Koffer, welche sich dann vor der Haustür aufreihten. James stand wie versteinert im Schlafzimmer und sah seine Frau an.
„Lily, wir sind sicher. Der Fidelius..."
„Wir wurden verraten. Wir müssen hier weg, sofort." Die Bestimmtheit in der Stimme seiner Frau ließ James zusammenzucken. Sie rannte die Treppen nach unten und er konnte hören, wie sie hinunter in den Keller lief. Schnell packte der die letzten Habseligkeiten zusammen und lief ihr mit Harry auf dem Arm hinterher. Mit rotem Kopf kam Lily die Kellertreppe hinaufgeschossen. Mit einem Schlenker ihres Zauberstabs ließ sie die Koffer verschwinden. Dann nahmen sie sich bei den Händen und disapparieten.

Sie landeten direkt auf der Schwelle des Hauptquartiers. Bevor sie auch nur einen Schritt hinein machen konnten, wurde die Tür von innen aufgerissen und Sirius' bleiches Gesicht sah ihnen entgegen.
„Lily, James, was ist passiert? Gerade sind eure Koffer angekommen. Geht es euch gut? Ist mit Harry alles in Ordnung?" James zuckte nur kurz die Schultern. Er kannte den Grund für den überstürzten Aufbruch schließlich ebenfalls nicht.
„Es geht uns gut", murmelte er. Lily schien zu keinem Wort fähig zu sein und schob sich an Sirius vorbei ins Haus. Sirius zog die Augenbrauen nach oben und trat dann zur Seite, um James ebenfalls hereinzulassen. Harry quiekte vergnügt, als er seinen Patenonkel erkannte und griff sofort nach Sirius' Haaren. Dieser streckte die Arme aus, um Harry entgegenzunehmen. Dann folgten sie gemeinsam Lily, die sich auf einen Stuhl in der Küche fallen lassen hatte.

James Potter und das Erbe GryffindorsWhere stories live. Discover now