♡105. Eröffnung

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Den Rest des Abends erlebte Harry wie in einer Art Trance. Er lachte und feierte mit seinen Freunden und seiner Familie, aber mit den Gedanken war er vollkommen woanders. Auror – sein Traumberuf. Es schien, als würden alle seine Wunschträume in Erfüllung gehen, sogar jene, von denen er immer gewusst hatte, dass sie nie Realität werden konnten. Nun saß er hier, inmitten eines, so wie es aussah, perfekten Lebens, und fühlte sich fremd. Kaum jemand hier kannte den Harry, der er war. Sie alle kannten einen Harry, von dem er selbst überhaupt nichts wusste. Die Eltern, die er sich immer gewünscht hatte, kannte er nicht und an eine Kindheit mit ihnen konnte er sich nicht erinnern. Harry musterte seine Eltern, die sich mit Dumbledore über irgendetwas unterhielten. Sein Vater hatte sich also, seinen Worten zufolge, doch den Wunsch erfüllen können, als Auror zu arbeiten. Welchen Beruf seine Mutter wohl ergriffen hatte, nachdem Voldemort besiegt worden war? Harry erschrak mitten in seinen eigenen Gedanken. Voldemort war doch hoffentlich besiegt? Er konnte es nur hoffen, würde aber später seine Eltern danach fragen. Es würde wohl eine lange Nacht werden. Harry nahm einen Schluck von seinem Butterbier und seufzte. Den besorgten Blick von Ginny bemerkte er dabei nicht.

Irgendwann hatten sich auch die letzten Gäste verabschiedet und Harry blieb mit seinen Eltern, Ron und Hermine, seinen Großeltern und Professor Dumbledore zurück. Morgan lag schon lange in ihrem Bett. Lily zog ihren Sohn in die Küche und begann, Tee zu kochen, während die anderen um ihn herum Platz nahmen. Harry beobachtete seine Mutter, wie sie routiniert den Zauberstab schwang und sich die Tassen auf dem Tisch verteilten. Dann schweifte sein Blick durch die Küche. Sie war anders als in den Erinnerungen, die er kannte. Im Laufe der Jahre hatten seine Eltern die Küche komplett renoviert und obwohl sie hochmodern war, wirkte sie urgemütlich. An einer Wand hingen Unmengen von Familienfotos, die ihnen alle, wenn auch etwas schläfrig, zuwinkten. Harry erkannte sich selbst in allen Altersstufen. Mal im Schulumhang, unverkennbar mit den Gryffindor-Farben, dann im Quidditch-Trikot der Hausmannschaft, auch im Festumhang war Harry zu sehen, mit Ginny als Begleitung, wahrscheinlich sein Abschlussball. Daneben gab es unzählige Bilder von Morgan, ebenfalls in Gryffindorfarben, und viele weitere von ihnen allen gemeinsam als Familie.
Lily nahm am großen Holztisch Platz, der den Raum beherrscht und für zehn Personen Platz bot. Sie nahm etwas Zucker und rührte in ihrem Tee. Niemand sprach ein Wort, während sie dieses Zeremoniell durchführte. Schließlich nahm sie einen kleinen Schluck, wobei die Tasse in ihren Händen merklich zitterte, und sah dann Harry an. Harry erwiderte den Blick ihrer so vertrauten Augen. Nun verstand er zum ersten Mal, warum ihm immer alle gesagt hatten, dass er aussehe wie sein Vater, aber Lilys Augen habe. Harry atmete tief durch, bevor er die Stille schließlich brach.
„Ich weiß, ihr wundert euch alle über meine Ohnmacht und mein Verhalten heute mittag." Seine Augen ruhten hauptsächlich auf seinen Eltern. James nickte langsam, sagte aber nichts. „Es mag vollkommen verrückt klingen, aber ich erinnere mich nicht an eine Vergangenheit mit euch. In meinen Erinnerungen seid ihr, bis auf Ron und Hermine, leider alle nicht mehr am Leben. Getötet von Voldemort", Harrys Blick wanderte zu seinen Großeltern und blieb schließlich an Dumbledore hängen, „durch unglückliche Umstände gestorben oder von Todessern ermordet." Willow atmete hörbar aus, während der Rest kreidebleich geworden war.
„Die Prophezeiungen", flüsterte Lily leise und Harry nickte.
„Ja, sie waren leider wahr. Zumindest in meiner Erinnerung. Ich bin bei den Dursleys aufgewachsen und habe erst an meinem elften Geburtstag von Hagrid erfahren, was und wer ich wirklich bin. Während meiner Schulzeit bin ich öfter auf Voldemort getroffen als mir lieb war, bis ich ihn schließlich vernichten konnte." James starrte seinen Sohn an.
„Willst du uns damit sagen, das alles hier ist nicht real?" Harry schüttelte den Kopf.
„Nein, es ist sehr wohl real, es ist eher so, dass ich scheinbar die Vergangenheit geändert habe."
„Harry, so unfassbar es klingt, was du gerade berichtest, möchte ich trotzdem jedem Wort Glauben schenken. Mir wurde einmal gesagt, dass die Welt der Magie unergründlich ist und obwohl ich mich selbst für verrückt hielt, hat man mir vertraut." Lily sah ihrem Sohn fest in die Augen und legte eine Hand auf seine. Die Wärme, die sie ausstrahlte, tat Harry unsagbar gut.
„Wie?", war alles, was James hervorpresste.
„Am Morgen meines achtzehnten Geburtstags, also praktisch heute, hat mich ein Brief erreicht. Ein Brief von euch. Geschrieben im Oktober 1981. Ihr wusstet, dass ihr in Gefahr schwebt und habt einen Brief sowie eure Erinnerungen an euer gemeinsames Leben für mich in einem Verlies aufbewahrt. Sirius und Remus haben sie dort für euch deponiert, während ihr euch bereits versteckt gehalten habt." Lily nickte. Natürlich konnte sie sich daran erinnern, das damals gemacht zu haben. Aber sie hatte den Brief vernichtet, nachdem...
„Ich habe mir die Erinnerungen angesehen, alle. Und währenddessen kamen in mir Gedanken an eigene Erlebnisse hoch. Erlebnisse, die ich gerne mit einer Familie geteilt hätte. Und Erlebnisse, die ich niemals gehabt hätte, wenn ich kein Waise gewesen wäre. Erinnerungen an mein erstes Weihnachten in Hogwarts, euren Tod, das erste Mal als ich hier in Godric's Hollow war."
„Ich habe diese Erlebnisse alle gesehen, Harry. Als Visionen", Lilys Stimme klang brüchig.
„Ja, und genau dies scheint der Grund zu sein, warum sich die Vergangenheit geändert hat. Ich würde euch gerne zeigen, wie meine Vergangenheit aussieht. Wahrscheinlich ist dies einfacher, als wenn ich euch alles erzähle. Vielleicht könntet ihr mir auch eure Vergangenheit zeigen, damit ich lerne, mich in dieses Leben einzufinden. Aber zuerst gestattet mir eine Frage. Ist Voldemort vernichtet?" Harry klang äußerlich ruhiger, als er es in seinem Inneren war. Die Ereignisse des Tages hatten ihn zutiefst aufgewühlt und ein Blick in die Gesichter der anderen Anwesenden verriet ihm, dass es ihnen nicht besser erging. Lilys Hand zitterte immer noch, Primus starrte ihn einfach nur an, wohingegen sich auf Willows Stirn tiefe Sorgenfalten eingegraben hatte. Ron war kalkweiß im Gesicht und schien nicht in der Lage zu sein, ein Wort hervorzubringen, obwohl sein Mund immer wieder auf- und zuklappte. Harry musste sich verkneifen, nicht darüber zu lachen, kannte er diesen Gesichtsausdruck doch nur zu gut. Einzig James und Dumbledore und Hermine wirkten gefasst. Bei letzteren lag es sicherlich daran, dass sie schon den ganzen Tag Zeit hatten, sich daran zu gewöhnen. Bei seinem Vater war Harry sich sicher, dass auch er nur äußerlich ruhig war. Vielleicht täuschte Harry sich in diesem Punkt allerdings, denn James' Stimme klang vollkommen kontrolliert.
„Ja, Voldemort ist seit siebzehn Jahren besiegt." Kaum hatte sein Vater diese Worte ausgesprochen, schien eine riesige Last von Harrys Schultern genommen. Die Vorstellung, dass Voldemort noch irgendwo dort draußen sein könnte, war kaum auszuhalten.
„Endgültig?"
James nickte als Antwort. Harry sah ihn an. Irgendetwas in der Mimik seines Vaters irritierte ihn. Sein Blick glitt zu seiner Mutter, die nach der Hand ihres Mannes gegriffen hatte und diese fest umklammert hielt. Lily hatte aufgehört zu zittern, aber ihre Augen hatten sich verdunkelt. Einen Moment zögerte Harry, bevor er seine nächste Frage stellte, die nicht mehr als eines einzigen Wortes bedurfte.
„Wer?"

James Potter und das Erbe GryffindorsWhere stories live. Discover now