♡135. Gleis 9 3/4

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Am nächsten Morgen stand Lily in aller Frühe auf, sogar vor James. So und so hatte sie die halbe Nacht kein Auge zugetan, also konnte sie auch aufstehen, statt im Bett zu liegen und Löcher in die Dunkelheit zu starren. Ein Blick auf die Küchenuhr verriet ihr, dass es gerade einmal fünf Uhr war, also noch jede Menge Zeit, sich vorzubereiten. An Weihnachten hatte Lily mit Albus besprochen, dass sie heute mit dem Hogwarts-Express zur Schule fahren und auch zum Festbankett noch bleiben würde. Albus hatte darum gebeten, dass zumindest ein Lehrer im Zug anreisen sollte, denn tatsächlich würden auch einige Halbblüter und Muggelgeborene an die Schule zurückkehren. Zumindest jene, deren Eltern den Wunsch geäußert hatten. Auf sie würde ein gutes Stück Arbeit zukommen, hatten doch die meisten von ihnen seit dem Fall des Ministeriums die Schule nicht mehr besucht und somit ein ganzes Schuljahr und vier Monate des darauffolgenden verpasst. Aus diesem Grund wurden alle Schüler, die nun nach Hogwarts zurückkehrten, nicht wieder zu ihrer eigenen Jahrgangsstufe zugeteilt, sondern zu dem Jahrgang darunter und trotzdem würden sie alle vier Monate Unterrichtspensum nachholen müssen, wenn auch nicht in Fächern wie Muggelkunde. Alle Lehrer, auch Lily, hatten sich bereit erklärt, diesen Schülern neben den normalen Unterrichtsstunden auch noch Zusatzstunden zu geben, um den fehlenden Stoff zu vermitteln. Im Moment würden es noch nicht alle Schüler sein, die wieder nach Hogwarts gehen konnten, einige Familien waren noch nicht nach England zurückkehrt. Sie trauten dem Frieden nicht. Doch die Hoffnung, dass es zum Sommer viel mehr Schüler werden würden, blieb. Der eigentliche Grund, warum ein Lehrer im Hogwarts-Express sein sollte, lag allerdings vielmehr darin, dass Albus befürchtete, dass unter den Hogwartsschülern vielleicht noch der eine oder andere sein könnte, der dem alten Regime treu ergeben war und Muggelgeborene und Halbblüter hasste. Daher würde Lilys Aufgabe darin bestehen, sich für eventuelle Auseinandersetzungen bereit zu halten, damit wollte man die Schulsprecher und Vertrauensschüler auf keinen Fall alleine lassen.
Irgendwann hatte Lily schließlich ihre letzten Sachen zusammengepackt und auch das Frühstück zubereitet und die Sonne zeigte sich noch lange nicht am Himmel. Mit einem Schlenker ihres Zauberstabs entfachte sie ein Feuer im Kamin im Wohnzimmer, nahm sich eine Tasse Kaffee und eines ihrer frisch erstandenen Zaubertrankbücher. Wenig später war sie vollkommen in ihrer Lektüre vertieft. Erst als James mit Harry auf dem Arm die Treppe nach unten kam, sah sie wieder auf. Die beiden waren tatsächlich schon fertig angezogen.
„Guten Morgen", begrüßte James sie und gab ihr einen Kuss. „Du musst schon seit Stunden auf sein." „Stimmt", bestätigte Lily und verschwuschelte ihrem Sohn lächelnd das Haar, worauf er vor Freude quiekte. „Ich habe mir die ganze Nacht Gedanken gemacht. Meinst du, es ist die richtige Entscheidung, Harry jetzt schon alleine zu lassen?"
James setzte Harry ab, der sofort nach seinem auf dem Boden liegenden Spielzeugbesen griff, und kniete sich vor Lily.
„Natürlich ist es richtig, Lily. Meine Mutter wird sich mit voller Hingabe um ihn kümmern. Und es war immer klar, dass du deine Begabung nutzen musst. Etwas so wundervolles und starkes kannst du nicht einfach ignorieren. Und nun hast du endlich die Gelegenheit. Greif sie mit beiden Händen, Rotschopf."
Lily sah ihren Mann an und war unendlich dankbar für seine Worte. Worte, die nicht selbstverständlich waren und ihr so viel bedeuteten.
„Und jetzt sollten wir frühstücken. Ich muss bald zur Arbeit. Harry bringe ich zu Molly. Mom hat ja ausgerechnet heute eine Gerichtsverhandlung."

„Hast du meine Ratte gesehen?", ertönte die weinerliche Stimme eines jungen Mädchens durch das Getöse. Auf dem Gleis stand der dampfende scharlachrote Hogwarts-Express. Einladend wie eh und je. Und auf dem Bahnsteig tummelten sich, ebenfalls wie eh und je, unzählige Eltern mit ihren Kindern. Schuhe wurden gebunden, Tränen getrocknet und gute Ratschläge erteilt. Und dazwischen begrüßten sich lautstark Freunde, die sich in den Weihnachtsferien nicht gesehen hatten. Als Lily auf den Bahnsteig apparierte, brach der Lärm über sie herein wie ein lange verschollener Bekannter. Schon seit der ersten Klasse hatte sie die Fahrten mit dem Hogwarts-Express geliebt und nach dem letzten Schuljahr nicht gedacht, dass sie selbst noch einmal damit fahren würde. Ein Lächeln trat auf ihre Lippen. In einigen Jahren würde Harry zum ersten Mal mit dem Zug zur Schule fahren. Sie freute sich jetzt schon darauf.
Langsam lief sie über den Bahnsteig, um sich einen Eindruck zu verschaffen. Dabei bekam sie nur unbewusst mit, dass der Lärm um sie herum nachlassen zu schien.
Erst als jemand ihren Namen sagte, stellte sie fest, dass irgendetwas anders war. Der halbe Bahnsteig schien sie anzustarren, nur wenige Eltern waren noch mit ihren Kindern in intensive Gespräche vertieft.
„Lily Potter...", hörte sie erneut eine Stimme, sie klang ehrfurchtsvoll. Deutlicher konnte es nicht sein, die Menschen hier sprachen über sie. Lilys Gedanken wirbelten durcheinander. Warum unterhielten sich all diese Menschen über sie, nur weil sie hier am Bahnsteig war? Was war an ihr so besonderes?
Etwas verunsichert blieb sie stehen und wünschte einen Moment, James wäre bei ihr. Er war es von Kindesbeinen an gewohnt, im Rampenlicht zu stehen. Für sie war das vollkommen neu und mehr als seltsam.
Eine blonde Frau mittleren Alters kam auf sie zu und lächelte sie freundlich an.
„Mrs Potter, bitte verzeihen Sie, dass ich Sie einfach so anspreche, aber ich konnte nicht widerstehen. Im Namen meiner ganzen Familie möchte ich Ihnen und Ihrem Mann dafür danken, dass sie uns alle von unserem furchtbaren Schicksal erlöst haben. Wir haben fünf Kinder und mein Mann ist Halbblut, daher sind wir ins Ausland geflüchtet. Nur Ihnen ist es zu verdanken, dass wir wieder in unsere Heimat zurückkehren konnten." Die Frau schüttelte der verdutzten Lily die Hand und ging wieder zu ihren fünf genauso blonden Kindern, die in der Nähe gewartet hatten.

Lily schüttelte verwirrt den Kopf und war froh, als der Hogwarts-Express ein lautes Pfeifen von sich gab, welches die meisten Schüler dazu brachte, sich von ihren Eltern zu verabschieden und den Zug zu besteigen. Wenig später pfiff der Zug erneut und Lily stieg ebenfalls ein. Albus hatte ihr gesagt, sie solle sich ins Schulsprecherabteil setzen, also begab sie sich auf den Weg vorbei an vielen Abteilen nach vorne Richtung Lokomotive. Sie wusste, dass ihr viele Blicke folgten, versuchte aber es bestmöglich zu ignorieren, während der Zug ratternd anfuhr. Schließlich hatte sie das Schulsprecherabteil erreicht und lächelte als sie es betrat. Ihre Gedanken glitten zurück zu jenem ersten Schultag ihres letzten Jahrs in Hogwarts, als sie hier in diesem Abteil gesessen hatte und auf ihren Schulsprecherpartner gewartet hatte. Sie hatte auf Remus gehofft, aber nicht daran geglaubt, dass zwei Gryffindors ernannt worden waren. Oder vielleicht Caradoc Dearborn, aber sie hatte nicht mit James Potter gerechnet. Bei der Erinnerung, wie sehr sie ihn damals gehasst hatte, verkrampfte sich alles in Lily.

In diesem Moment ging die Tür auf und zwei Jugendliche betraten das Abteil. Wie immer bestand das Schulsprecherpaar aus einem Mädchen und einem Jungen. Das dunkelhaarige Mädchen, deren Schulumhang sie eindeutig als Gryffindor auswies, reichte Lily höflich die Hand. Lily überlegte einen Moment und versuchte die beiden einzuordnen, schließlich waren sie auch schon zu ihrer eigenen Schulzeit in Hogwarts gewesen.
„Ceara Fairchild, richtig?" Das Mädchen nickte und Lily wandte sich an den großgewachsenen jungen Ravenclaw, der neben Ceara stand. „Und Sie müssen Leach Studwick sein?" Der Junge nickte ebenfalls zustimmend. „Falls Sie beide sich nicht mehr an mich erinnern, mein Name ist Lily Potter, ich habe Hogwarts im Sommer 1978 abgeschlossen und war ebenfalls Schulsprecherin."
„Wir wissen alle genau wer Sie sind, Mrs Potter. Schließlich haben Sie und Ihr Mann Voldemort besiegt. Sie sind Helden. Allerdings werden die Schüler, die mit Ihnen gemeinsam in Hogwarts waren, wohl nie vergessen, wie sie James Potter vor der versammelten Schule beschimpft und ihm die Leviten gewesen haben", stellte Leach fest und grinste dabei breit. „Niemand von uns hätte wohl angenommen, dass Sie ausgerechnet ihn heiraten."
„Nun, manchmal spielt das Leben anders als man denkt", gab Lily lächelnd zur Antwort. „Und was Voldemort angeht. Wir haben nur getan, was wir tun mussten. Wie es jeder andere auch getan hätte."
„Ich glaube nicht, dass es jeder getan hätte, Mrs Potter, sonst wäre er niemals so mächtig geworden. Außerdem hätte es wohl auch nicht jeder gekonnt, dazu gehört ungewöhnlich große Macht, über die Sie scheinbar verfügen", mischte sich nun Ceara in das Gespräch ein. „Darf ich fragen, was Sie denn nun in den Zug führt? Wurden Sie vom Ministerium geschickt?", fragte sie neugierig.
„Das Ministerium hat mich nicht geschickt, nein. Ich bin Eure neue Lehrerin für Zaubertränke."
Ceara und Leach starrten sie beide mit weit aufgerissenen Augen an.
„Sie werden Zaubertränke unterrichten?", entfuhr es Leach. „Unglaublich. Professor Slughorn hat uns einmal davon berichtet, dass Sie ein außergewöhnliches Talent haben. Wir sind auch davon ausgegangen, einen neuen Lehrer zu bekommen, aber Sie? Wow."
„Ich fühle mich sehr geschmeichelt, Mr Studwick und ich freue mich ausgesprochen auf diese Herausforderung. Haben Sie beide Zaubertränke für die UTZ gewählt?"
Beide Schüler nickten, Ceara wirkte allerdings nicht sonderlich begeistert.
„Dann werden wir uns ja im Laufe der Woche auch im Unterricht sehen. Ich bin mir sicher, wir werden viel Spaß miteinander haben. Und wann immer Sie mich brauchen, zögern Sie nicht, zu mir zu kommen. Meine Bürotür wird Ihnen immer offen stehen. Ihnen und allen andern Schülern. Auch wenn ich noch nicht genau weiß, wo mein Büro sich befindet. Ich hoffe nur, nicht im Kerker", lachte Lily.
Wenig später brachen die beiden Schulsprecher zu ihrem ersten Rundgang auf und Lily blieb alleine im Abteil zurück.

James Potter und das Erbe GryffindorsWhere stories live. Discover now