♡ 149. Erster Unterrichtstag

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- 6. Januar 1982-

Lily erwachte am nächsten Morgen nur langsam. Es war lange her, dass sie zum letzten Mal früh hatte aufstehen müssen und interessanterweise hielt sie sich sogar am gleichen Ort auf. Dreieinhalb Jahre waren vergangen, seit sie Hogwarts verlassen hatten. Jahre, in denen viel passiert war. Mühsam erhob sie sich und warf einen Blick aus dem Fenster. Wie sie vermutet hatte, lagen die Ländereien und Hagrids Hütte ihr zu Füßen. Sie musste ihn unbedingt in den nächsten Tagen besuchen. Schnell verschwand sie in ihrem privaten Badezimmer, wählte einen dunkelroten Umhang und wenig später war sie auf dem Weg in die Große Halle. Das vertraute Gemurmel hunderter Schülerstimmen drang ihr entgegen, als sie die Halle betrat und ihren Platz am Lehrertisch einnahm. Severus war erstaunlicherweise schon anwesend.
„Guten Morgen, Lily."
„Dir ebenfalls guten Morgen, Severus." Ihre Stimme klang leicht unterkühlt. Sie würde Zeit brauchen, bis sie ihm verzeihen konnte. „Ich möchte, dass du bei allen Unterrichtsstunden, die ich gebe, anwesend bist, dich aber vorerst zurückhältst. Ich möchte erst sehen, wie du mit den Schülern umgehst, bevor du selbst unterrichten kannst."
Severus gab kein Wort des Widerstands von sich, sondern nickte nur.
„Wunderbar. Wir beginnen heute Morgen direkt mit je einer Doppelstunde Viertklässler Gryffindor und Ravenclaw. Danach haben wir eine gemeinsame Doppelstunde mit dem Abschlussjahrgang der Hufflepuffs und der Slytherins."
Lily beendete das Frühstück schweigend. Vieles schwirrte in ihrem Kopf umher, besonders die Worte von James am gestrigen Abend. Die halbe Nacht hatte sie darüber wach gelegen. Schon im Hogwarts-Express hatte sie es gespürt und bei ihrer Ankunft im Schloss umso mehr. Hier, dort wo ihre Freundschaft begonnen hatte, war sie Morgan viel näher, als es in den letzten Monaten der Fall gewesen war. Der Verlust hatte eine schmerzliche Lücke in ihr hinterlassen, schließlich konnte man so viele Jahre einer engen Freundschaft nicht einfach vergessen. Doch erst als James davon berichtet hatte, dass Morgans Mörder verurteilt worden war, war ihr klar geworden, dass sie Vergeltung gewollt hatte. Sie hatte sich niemals für einen rachsüchtigen Menschen gehalten, aber der Gedanke daran, dass Malfoy nun für immer in Askaban schmoren würde, bereitete ihr eine gewisse Genugtuung. Aber auch der Gedanke an Sirius und seine Mutter hatte sie wach gehalten. Auch wenn sie es zu Beginn ihrer eigenen Hogwartsjahre wohl niemals für möglich gehalten hätte, so liebte sie James' besten Freund mittlerweile wie einen Bruder. Er war ein durch und durch guter Mensch, etwas, das ihr früher niemals bewusst gewesen war.

Seufzend erhob sie sich. Nun war keine Zeit dafür, erneut ihren Gedanken nachzuhängen. Sie musste die erste Schulstunde vorbereiten. Severus folgte ihr wie auf ein Kommando hinunter in die Kerker. Minerva hatte Lily am gestrigen Abend noch die Schlüssel für die nur Lehrern zugänglichen Räume gegeben, zumindest für jene, die nicht durch Zauber vor dem Eindringen von Schülern geschützt waren, wie beispielsweise das Lehrerzimmer.
Voller Anspannung schloss Lily die Tür zum Klassenzimmer auf und trat ein. Es war düster und roch leicht staubig. Mit einem Schlenker ihres Zaubertabs entzündete sie die Fackeln an den Wänden, die Gaslampen auf dem Lehrertisch und die Kerzen, welche im Raum verteilt standen. Sofort war der Raum in ein sanftes Licht getaucht. Berge von Staub türmten sich auf den mit unzähligen Gläsern voll mit Zaubertrankzutaten bestückten Wandregalen, fast so, als würden die Hauselfen es nicht wagen, hier sauber zu machen. Mit einem weiteren Schlenker ihres Stabes entfernte Lily den Staub. Viel hatte sich hier seit ihrer eigenen Schulzeit nicht verändert und doch alles. Professor Slughorn mochte den einen oder anderen seltsamen Spleen gehabt haben, aber er war ein hervorragender Lehrer gewesen und Lily wusste, dass es schwer war, seine Lücke zu füllen, zumal der Professor über herausragende Kenntnisse in der Kunst der Zaubertrankbrauerei verfügt hatte. Nun, als sie seinen ehemaligen Unterrichtsraum betrat, schien es so, als sei mit seinem Tod, auch seine Seele aus dem Raum verschwunden und es lag an ihr, ihm und dem Unterricht wieder Leben einzuhauchen.
Sie spürte, dass Severus den Raum ebenfalls betreten hatte und wandte sich zu ihm um.
„Ich würde dich bitten, mich heute in den ersten Stunden mit den Schülern alleine zu lassen, Severus", sagte sie und sah ihm zum ersten Mal seit ihrer Ankunft in Hogwarts ins Gesicht. Und vielleicht zum ersten Mal seit vielen Jahren konnte sie darin wieder etwas lesen. „Es liegt nicht an dir", fügte sie hinzu und es schien fast so, als würde er genau verstehen, was in ihr vorging.
„Ich werde die Vorräte durchsehen und notieren, was bestellt werden muss", nickte Severus und verließ den Raum.

Wenige Augenblicke später trafen die ersten Schüler ein. Nach und nach nahmen sie ihre Plätze vor den Feuerstellen ein und Lily lächelte sie freundlich an.
„Guten Morgen", grüßte sie, nachdem alle vollzählig waren, „wie Ihnen schon bekannt sein dürfte bin ich Professor Lily Potter, Ihre neue Lehrerin in Zaubertränke. Wie Sie selbst, war ich bis vor wenigen Jahren Schülerin von Hogwarts." Sie ließ ihren Blick durch die Klasse gleiten und bevor sie auch nur ein weiteres Wort sagen konnte, flog der Arm eines Schülers nach oben.
Lily lächelte ihn freundlich an.
„Bitte, Mr...?"
„Montgomery, Professor, Kenneth Montgomery", antwortete der Gryffindor prompt. „Wie fühlt es sich an, so berühmt zu sein, Professor?"
Lily wusste, dass ihr eigentlich nur zwei Möglichkeiten blieben. Sie konnte den strengen Weg einschlagen, den von Minerva McGonagall, und den Jungen zurechtweisen. Oder aber... Sie blieb einfach sie selbst...
„Um meinen Mann zu zitieren, Mr Montgomery, berühmt ist man erst, wenn man in den Schokofroschkarten ist", lautete ihre Antwort und sie erntete die erhofften Lacher in ihrer Klasse. Das erste Eis war gebrochen. „Aber natürlich will ich Ihre Frage ernsthaft beantworten. Ich selbst stamme aus einer vollkommen normalen und sehr bodenständigen Familie. Ruhm und Bekanntheit, wie ich sie derzeit erlebe, waren mir also vollkommen fremd und sind für mich sehr gewöhnungsbedürftig. Besonders, da wir nichts anders getan haben, als das, was alle anderen Eltern an unserer Stelle getan hätten: Wir haben unseren Sohn geschützt. Und natürlich für unsere Freiheit und die unserer Freunde und Familie gekämpft. Nicht mehr und nicht weniger." Lily ließ dem Schüler einen Moment Zeit, um ihre Worte zu verarbeiten. „Ich hoffe, ich konnte ihre Frage damit beantworten, Mr Montgomery?"
„Ja, vielen Dank, Professor", antworte der Schüler prompt und Lily ließ ihren Blick erneut durch den Klassenraum schweifen.
„Weitere Fragen?"
Zaghaft erhob sich die Hand eines brünetten Mädchens in der zweiten Reihe.
„Verraten Sie mir Ihren Namen?"
„Maelle Thomas, Professor", kam die schüchterne Antwort.
„Danke, Miss Thomas. Wie lautet Ihre Frage?"
„Verzeihen Sie, Professor, aber wenn jeder das getan hätte, was Sie getan haben, warum waren dann so wenige im Widerstand? Warum haben Sie nicht wie so viele andere Muggelgeborene Ihren Sohn genommen und haben das Land verlassen?"
Es war eine vollkommen unschuldige, naive Frage und doch raubte sie Lily für einen Moment den Atem. Wenn jeder das getan hätte, was Sie getan haben... Lily schluckte und blickte in die braunen Augen des jungen Mädchens. Sie wusste keine Antwort.
„Nicht für alle von uns war es der richtige Weg zu kämpfen", suchte sie schließlich nach den richtigen Worten. „Mein Mann und ich waren immer gute Duellanten, konnten uns aufeinander und auf unsere Freunde verlassen. Dazu kommt etwas, was ich in meiner Zeit hier in Hogwarts gelernt habe: Mit Talent gesegnet zu sein verpflichtet auch. Niemand von uns hätte einfach vor dem Krieg weglaufen können und seine Freunde zurücklassen können." Sie lächelte in die Runde, um ihre Worte etwas abzumildern. „Außerdem sind Gryffindors ja bekannt für Mut und Tapferkeit, oder?" Sie zwinkerte ihren Schülern zu und das Grinsen in den Gesichtern verriet ihr deutlich, dass sie auf dem besten Weg war, sich die Sympathien der Gryffindors zu sichern. Zumindest dieses Jahrgangs.
„Nun, wenn Sie keine weiteren Fragen haben, würde ich gerne ein paar Worte über mich, meine Rolle als Ihre Professorin und unseren Lehrplan für den Rest des Schuljahres verlieren. Wie ich bereits sagte, habe ich selbst Hogwarts besucht und war wie Sie eine Gryffindor. Während meiner Schullaufbahn war ich wohl das, was Sie als Streberin bezeichnen würden. Neben herausragenden Noten war ich Vertrauensschülerin und später auch Schulsprecherin. Von Beginn an waren Zaubertränke für mich so etwas wie meine persönliche Berufung und der erste Gang zur Apotheke in der Winkelgasse glich einer Erleuchtung. Natürlich ist mir durchaus bewusst, dass nicht jeder von Ihnen diese Begeisterung für Zaubertränke teilen kann und wird, allerdings hoffe ich, dass wir gemeinsam in diesem Unterricht Spaß haben." Erneut wanderten ihren Augen durch die Klasse. Sie konnte die ratlosen Blicke der Schüler auf sich spüren. Spaß in Zusammenhang mit Zaubertränke? Das wäre den meisten von ihnen wohl niemals in den Sinn gekommen. „In den letzten Jahren hatte ich die Gelegenheit von einer der besten Trankmeisterinnen unserer Zeit zu lernen und habe die Jahre ebenso genutzt, mir selbst weiter Wissen anzueignen. Sollte es also irgendetwas geben, was Sie wissen möchten, nur zu. Fragen Sie. Meine Tür steht Ihnen offen. Das gilt allerdings nicht nur für unterrichtsbezogene Themen. Es ist mir wichtig, dass Sie sich darüber im Klaren sind, dass ich immer ein offenes Ohr für Sie haben werde, auch wenn ich nicht wie die anderen Lehrer in der Schule leben werde. Kommen wir zum wirklichen Wichtigen: Dem Unterricht. In den nächsten Monaten werden wir uns mit allerlei verschiedenen Tränken beschäftigen. Zum einen werden wir den Alraunen-Wiederbelebungstrank genauer unter die Lupe nehmen und auch gemeinsam einen Versuch unternehmen ihn zu brauen, sobald die Alraunen im Gewächshaus soweit sind. Zudem werden wir uns einigen weiteren Zaubertränken widmen, für die man Alraunen benötigt. Für unsere nächste Stunde habe ich mir überlegt, einen Gripsschärfungstrank zu brauen. Heute werden wir aber am etwas einfachem und später auch Spaßigem arbeiten. Dem Plappertrank." Sie schwang ihren Zauberstab und das Rezept erschien an der Tafel hinter ihr. Mit einem weiteren Schlenker verteilten sich die Zutaten bei den Schülern. „Los geht's", meinte sie.

James Potter und das Erbe GryffindorsWhere stories live. Discover now