Es waren bereits sieben Tage vergangen. Sieben Tage, in denen nichts passiert war. Sieben Tage, in denen Jack und Jessie frisch verheiratet in einer Zelle im Bauch eines Schiffes der Royal Navy hockten. Sieben Tage in denen die beiden fast verzweifelten, aber auch ein wenig Spaß beim Planen einer möglichen Flucht gehabt hatten. Die Flucht vor dem Galgen. Die beiden waren weder optimistisch, noch pessimistisch, was das betraf. Schließlich musste man aus der Situation, und wenn sie noch so erbärmlich war, das beste für sich herausholen.
Und nun hockten die beiden Piraten eng aneinander gekuschelt in ihrer Zelle. Jack hatte seinen Arm um Jessie gelegt. Ihr Kopf ruhte auf seiner Schulter. Beide schliefen. Noch. Denn draußen war es bereits hell. Die Sonne schien und die Möwen kreischten.
"Aufwachen, Piraten!", riss die arrogante Stimme James Norringtons die beiden aus dem Traumland zurück in die Realität.
"Was zur Hölle...?", murmelte ich, öffnete blinzelnd die Augen, erkannte James Norrington vor unserer Zelle und spürte, wie meine Laune deutlich in den Keller ging. "Ach, du liebe Güte!", stöhnte ich genervt auf.
Er war es gewesen, der die letzten Tage immer wieder bei uns vorbei geschaut hatte. Er war auch derjenige gewesen, der Jack und mich in die Zelle befördert hatte. Ihm hatten wir das alles hier also zu verdanken. Ich stuppste Jack neben mir kurz an und er war sofort hellwach.
"Wir legen in wenigen Minuten an. Port Royal liegt direkt vor uns. Ich schwöre, ihr werdet noch höchstens die nächsten drei Sonnenaufgänge erleben", schwor uns Norrington.
Meine Augen verformten sich zu Schlitzen und in mir kam Wut auf.
Norrington pfiff ein weiteres Navy-Kerlchen heran. "Gilette, die Schlüssel, bitte. Und die Handschellen!"
Der Kerl, der wohl Gilette hieß, gehorchte, kam herbei und gab Norrington die Schlüssel. Dieser steckte sie ins Zellenschloss.
"Wisst Ihr, was ich mich frage, Norri?", begann ich ebenso arrogant, wie er, erhob mich, trat auf die Zellentür zu und blickte stolz zu Norrington empor - zu schade, dass ich um einiges kleiner war als er. "Wozu dient eigentlich eure Perücke? Sehr viel kann sie ja sicher nicht warmhalten, bei dem, was unter ihr alles geschieht, oder eben... nicht geschieht, was?" Ich sah ihn wütend an und verschränkte die Arme vor der Brust.
"Jessie, nicht! Das ist gar nicht gut! Was machst du da? Hör auf damit!", sagte Jack hinter mir, stand ebenfalls auf und legte mir beschwichtigend die Hand auf die Schulter. "Das hat keinen Sinn."
"Hast Recht", gab ich nach. "Das kommt ja eh nicht in Norris Erbse von Hirn an."
"Haltet Euer großes, freches Mundwerk, Missy!", sagte nun Gilette und verteidigte offenbar seinen Vorgesetzten.
"Jetzt hab ich aber Angst!", bemerkte ich sarkastisch und verdrehte die Augen. "Hör mal, Freundchen, wenn wir hier raus kommen, dann-"
"Jessie!", ermahnte mich Jack ein weiteres Mal. "Hör endlich auf!", wiederholte er.
"Na gut...", nuschelte ich.
Norrington öffnete nun die Zellentür. Sofort kam Gilette auf uns zu, stellte sich hinter mich und zerrte meine Arme grob nach hinten, um mir dann Handschellen anzulegen. Das gleiche machte er auch bei Jack. Ich wehrte mich erst gar nicht, da ich genau wusste, dass das keinen Sinn haben würde. Also wurden Jack und ich von Gilette und Norrington aus der Zelle geführt. Gilette führte mich. Norrington führte Jack. Die beiden liefen vor uns her.
Was würde wohl geschehen, wenn ich unserem Norrington ein Beinchen stellen würde? Es würde bestimmt lustig sein, das auf jeden Fall. Ich beobachtete seine Füße und Gangart. Und dann streckte ich mein Bein aus und trat Norrington einen Fuß weg. Daraufhin stolperte dieser, ließ Jack los und löffelte sich mitten im Gang hin. Ich verkniff es mir laut los zu lachen. Doch leider war ich so tollpatschig und stolperte im Bruchteil einer Sekunde später über ihn und lag nun selbst am Boden. Schöne, heilige Scheiße. Das war so typisch!
"Jessie...", meinte Jack bloß und rollte mit den Augen.
Ich grinste entschuldigend. "Verzeihung!"
Norrington rappelte sich auf und ergriff sofort wieder Jacks Arm. "Das macht ihr nicht noch einmal, PIRATIN!"
"Das überleg ich mir noch, COMMODORE!", erwiderte ich und lächelte eine Spur frech und arrogant.
"Haltet jetzt endlich Euer freches Mundwerk, verdammt nochmal!", meckerte Gilette mich an, packte mich grob am Oberarm und riss mich auf die Füße.
"Es ist unheimlich amüsant zu sehen, wie einfach man euch - die stolze königliche Marine - auf die Palme treiben kann!" Ich grinste und warf Jack einen Blick zu.
Jack grinste mich nun ebenfalls an und schüttelte amüsiert den Kopf. Dann wurden wir weitergeführt. Schließlich wollten wir ja heute noch auf dem Deck ankommen, nicht wahr? Naja, was hieß hier 'wollen'? WOLLEN wollten es ja nur die beiden Pappnasen, die sich für oberwichtig hielten. Pff, wichtig... von wegen!
Und etwa zwei Stunden später hockten Jack und ich in einer neuen Zelle. Die in Port Royal. Hier war es wenigstens ETWAS angenehmer als in der Zelle im Schiffsbauch. Jedenfalls soweit Zellen in irgendeiner Art und Weise angenehm sein konnten.
Ich kniete gerade an der Zellentür, hatte einen Knochen in der Hand und den Arm bis zur Schulter durch die Gitterstäbe gesteckt, um den kleinen Köter mit dem Schlüsselbund anzulocken. Ich pfiff mehrmals.
"Hierher, Fiffi! Hol dir den Knochen. Tante Jessie beißt auch nicht! Hierher, Fiffi!", sagte ich in hoher, freundlicher Stimme, als würde ich mit einem kleinen Kind reden.
"Wäre ich dieser lausige Köter, hätte ich schon längst nicht mehr widerstehen können, Süße!", machte mich ein schmutziger, schmieriger Kerl aus der Nebenzelle an.
"Hey, Freundchen! Lass sie bloß in Ruhe!", mischte sich Jack ein, der bis dato gelassen an der Wand gelehnt hatte, den Arm auf das angewinkelte Bein gestützt und den Hut über das Gesicht gezogen hatte, und sah nun auf, wobei er den Kerl böse anfunkelte. "Sie gehört MIR!"
"So ist es", kommentierte ich, um auch mal etwas dazu gesagt zu haben.
Ich zog meinen Arm zurück in die Zelle, da ich mittlerweile aufgegeben hatte, was den Hund mit den Schlüsseln betraf. Ich kroch zu Jack herüber, welcher sofort schützend seinen Arm um mich legte und mich an sich drückte. Ich lächelte. Sein Beschützerinstinkt kam doch immer wieder durch! Jetzt fehlte nur noch eins: eine Gitarre! Denn mir war unglaublich langweilig. Ich konnte nichts tun.
"Hey! Wachtposten!", rief ich, woraufhin ein Navy-Kerlchen, welches auf uns aufpassen sollte, ankam.
"Was wollt Ihr?", fragte er mürrisch.
"Eine Gitarre. Besorg mir eine Gitarre!", sagte ich.
"Vergesst es, Braunlöckchen", antwortete er und grinste nun amüsiert. "Als ob jemand von euch hier irgendwas bekommt, abgesehen vom Galgen."
"Bitte WIE hast du mich gerade genannt?", fuhr ich ihn an.
"Braun-löck-chen!", wiederholte er, jede einzelne Silbe betonend und grinste noch breiter.
"...Unglaublich", murmelte ich kopfschüttelnd. Dann versuchte ich weiter zu argumentieren: "Du willst einer Lady die letzten Stunden vor ihrer Hinrichtung etwa noch besonders zur Hölle machen, was? Das ist wirklich nicht sehr ehrenvoll."
"Wie gesagt: vergesst es!"
"Ich werde doch sowie so in den nächsten Tagen gehängt. Da kann mir doch wohl noch ein letzter Wunsch erfüllt werden, oder nicht?"
Der Kerl betrachtete mich und zögerte einen Moment. Dann sagte er: "Gut, Ihr bekommt Eure Gitarre, wenn Ihr dann endlich Ruhe gebt." Dann ging er davon.
"Pff... Braunlöckchen", sagte Jack verächtlich.
"D dürftest mich so nennen", erklärte ich und nickte bestimmt. "Aber er nicht!"
"Wie du meinst, Liebes", antwortete Jack und drückte mir einen Kuss auf die Schläfe.
"Miss? Eure Gitarre", sagte der Wachmann, der soeben zurückgekommen war, und schloss die Zelle auf.
Ich ging auf ihn zu und nahm ihm die Gitarre ab. "Sehr aufmerksam von dir", sagte ich und setzte mich wieder zu Jack, der sofort wieder seinen Arm um mich legte.
Während der Mann von der Navy uns wieder einschloss, begann ich die Gitarre zu stimmen. Ich zupfte die Saiten und drehte sie strammer oder lockerer, zupfte, lauschte, drehte, zupfte, lauschte. Bis alle Saiten gestimmt waren.
"Dann lasst mal hören, was Ihr könnt, Piratin", sagte der Navy-Mann und setzte sich an die Wand gegenüber unserer Zelle.
"Du musst nicht nett zu mir sein", meinte ich kühl und gelassen und begann eine Melodie zu spielen.
"Genau. Reiz sie nicht, du wirst es bereuen, mein Freund!", sagte Jack leicht gereizt und funkelte ihn an; mit seiner Hand strich er beschützend über meinen Oberarm.
Derweil begann ich zu meinem Gitarrenspiel zu singen: "Dying young and playing hard, that's the way my father made his life and art. Drink all day and we talk till dark, that's the way the road dogs do it light 'til dark. Don't leave me now, don't say goodbye, don't turn around, leave me high and dry."
Ich warf einen kurzen Blick auf den Kerl von der Navy. Er wirkte doch relativ beeindruckt.
"I'm tired of feeling like I'm freaking crazy, I'm tired of driving 'til I see stars in my eyes, it's all I've got to keep myself sane, baby, so I just ride, I just ride. I hear the birds on the summer breeze, I drive fast, I am alone at midnight. Been trying hard not to get into trouble, but I, I've got a war in my mind. I just ride, just ride." Ich beendete mein Liedchen und sah dann auf.
"Eins muss man Euch lassen: Ihr habt wirklich Talent!", lobte mich das Navy-Kerlchen. "Eigentlich schade, dass Ihr gehängt werden sollt. Ihr wärt eine gute Attraktion."
"Danke", sagte ich, meinte es aber in keiner Weise so - dieser arrogante, eingebildete, hochnäsige Mistkerl konnte mich mal kreuzweise am Allerwertesten lecken.
Ich legte die Gitarre neben mich, kuschelte mich an Jack und vergrub meinen Kopf an seiner Halsbeuge.
"Müde, Jessie, Liebes?", fragte Jack und klang dabei leicht amüsiert.
"Hm-m", machte ich nur, nickte und war schon bald auf dem Weg ins Traumland.
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Lied: Lana del Rey - Ride