Als ich am nächsten Morgen aufwachte, blickte ich sofort in den blauen Karibikhimmel. Ich hatte im Krähennest geschlafen, da mir die Kapitänskajüte noch zu vollgeschleimt von Fischfresses Tentakeln gewesen war. Jetzt mal ernsthaft: das war doch total ekelhaft! Überall dieser ganze Schleim. Und wirklich gut roch das Ganze auch nicht so wirklich. Ich verzog das Gesicht und schüttelte mich kurz. Aber wieso dachte ich am frühen Morgen darüber nach? Ich sollte erst einmal vernünftig wach werden.
Doch daraus wurde nichts, denn es wurde schon von unten nach mir gerufen, ganz so als ob meine Crew allein nichts auf die Kette bekam und obendrein ein Gespür dafür hatte, wann ich wach war. "Captain!"
Ich schaute über den Rand hinunter auf das Deck. "Was wollt ihr?"
"Ihr... müsst eure Pflicht erledigen, Captain Bones. Wenn Ihr es nicht tut, wird die Flying Dutchman wieder verflucht und wir mutieren zu Teilen des Schiffes!", rief ein blonder Mann zu mir herauf; es war dieser Taylor, den ich gestern zum Steuern verdonnert hatte.
Ich seufzte und kletterte hinunter. Wenig später stand ich neben ihm und sah ihn fragend an. "Könntet Ihr mir vielleicht erklären... wie das geht?"
"Was?! Ihr wisst nicht, wie das geht?", fragte Taylor überrascht. "Ich dachte, Ihr wolltet Davy Jones' Pflicht übernehmen? Warum sonst habt ihr ihn umgebracht?!"
"Es war ein Versehen!", motzte ich vielleicht etwas zu grob. "Und jetzt wäre ich Euch sehr verbunden, wenn Ihr mir diesen Mist vielleicht erklären könntet, Mr. Taylor!"
"Wisst Ihr was? Nennt mich Troy, in Ordnung?", schlug er mir vor, lächelte und hielt mir seine Hand hin.
Ich wusste nicht, wie ich mich jetzt fühlte. Ein wildfremder Mann bot mir seinen Vornamen an. Ich sah ihm verunsichert in die Augen und merkte, dass er mindestens einen Kopf größer war als ich. Er hatte blaue Augen. Sie waren zwar nicht so schön, wie die von David, aber sie waren blau und glitzerten vor Freundlichkeit. Ich merkte, dass sich auf meine Wangen ein leichter Rosaton stahl.
"Ähm... okay", sagte ich und schüttelte ihm die Hand. "Nenn mich Jessie."
"Alles klar", sagte Troy und lächelte noch einmal.
Und sein Lächeln, das konnte ich nicht verleugnen, war wirklich bemerkenswert schön. Was war das? Was für einen Blödsinn veranstaltete mein Gehirn da gerade wieder? Hallo? Jessie? Du bist mit dem hübschesten Piraten der Welt liiert und findest das Lächeln eines einfachen Mannes deiner Crew attraktiv? Ich kniff kurz die Augen zu und stellte mir Jack vor meinem inneren Auge vor. Da war er. Seine dunklen Augen ließen mich lächeln mein Herz wahrscheinlich höher schlagen - irgendwo in Jacks Manteltasche. Sehr gut!
Ich öffnete die Augen. "Also, Troy, wie geht das, was ich tun muss?"
"Du musst die auf See gestorbenen Seelen auf die andere Seite bringen", sagt er, als wäre es da simpelste auf der Welt.
"Auf die andere Seite bringen?", wiederholte ich. "Was zur Hölle...?! Wie zum Geier soll das gehen?"
"Nun ja... du musst sie auf der Dutchman auf die andere Seite bringen", sagte Troy.
Ich setzte einen verwirrten Blick auf.
"Du musst sie ins Totenreich bringen. Wenn wir mit dem Schiff untertauchen, tauchen wir woanders wieder auf."
"Lass mich raten: woanders ist das Totenreich, hab ich Recht?"
"Ganz genau", antwortete Troy. "Da müssen die toten Seelen hingebracht werden."
"Wo ist der Sinn?", fragte ich. "Ich meine, wenn man stirbt kommt man doch automatisch ins Totenreich, oder?"
"Nein, du musst sie schon hinbringen, Jessie. Wenn du es nicht tust, werden wir verflucht. Wie damals mit Davy Jones", erklärte mir Troy.
Ich nickte. "Ich verstehe. Aber wie tauchen wir unter?"
"Komm mit", sagte Troy, ging voraus und ich folgte ihm zu einem runden Ding aus Holz, in dem Holzhebel steckten. "Dieses Gerät muss gedreht werden. Dann wird es losgelassen, um unterzutauchen."
"Und wo kriegen wir die toten Seelen her?"
"Solange wir im Reich der Lebenden sind, füllt sich die Flying Dutchman mit toten Seelen, bis wir im Totenreich sind. Dort musst du sie abliefern. Das heißt also, dass wir immer unterwegs sind, Jessie. Ohne Pause. Nur alle zehn Jahre darfst du einen Tag an Land verbringen, weil du der Captain bist. Davy Jones wollte seinen Tag damals mit seiner Liebsten verbringen. Ich vermute, du kennst die Geschichte."
"Ja. Seine Liebste war Calypso, die Göttin des Meeres, gebunden an ihren menschlichen Körper. Hab ich Recht?! Sie ist nicht zum vereinbarten Ort gekommen, stimmt's?!", fragte ich.
"Aye, so ist es", bestätigte Troy.
Ich dachte nach. Was, wenn Jack nicht da sein würde, wenn ich an Land gehen dürfte? Was, wenn er mich, wie Calypso die Fischfresse, sitzen lassen würde? Daran wollte ich gar nicht erst denken!
"Hast du schon einen Plan, was du an dem Tag an Land machen willst?"
"Soweit wird es nicht kommen, Troy", versicherte ich ihm. "Mein Verlobter wird mich retten. Davon bin ich überzeugt."
"Du bist verlobt?", fragte er und klang total überrascht. "Du siehst so... jung aus."
Ich lachte. "Ich bin einundzwanzig. Und ja, mein Verlobter. Captain Jack Sparrow. Du hast bestimmt schon von ihm gehört, oder? Er ist Captain der Black Pearl. Und er wird mich retten", erklärte ich fest überzeugt.
"Ich weiß nicht, ob das so klappen könnte, wie du dir das vorstellst...", bedachte Troy.
Ich spürte so etwas wie Wut in mir aufsteigen. "Glaubst du etwa, er wird es nicht schaffen?! Kennst du seine Geschichten nicht? Er ist der beste Pirat, von dem ich je gehört habe. Und den ich je kennengelernt habe, merk dir das, ja?" Mit diesen Worten ging ich davon und wollte in die Kajüte stapfen, in der die Crew gerade noch putzen musste. Als ich jedoch die Tür öffnete, drang ein unangenehmes Heulen über das Schiff. "Was zum-", begann ich, jedoch wurde ich in den Raum gezerrt und gegen die Wand gepresst.
"Ihr müsst sofort ins Totenreich, Captain Bones!", sagte jemand, der mir so nah war, dass ich nur seine Augen erkennen konnte. "Es ist wie damals. Wenn Ihr nicht sofort etwas unternehmt, werden wir alle verflucht!"
"Okay, ich... wäre euch sehr verbunden, wenn ihr mich loslassen könntet, Mr.-"
"Turner", ergänzte er und ließ mich endlich los.
Turner? Diesen Namen kannte ich doch. Na klar! Will hieß doch Turner.
"Ihr seid nicht zufällig mit Will Turner verwandt?", fragte ich sofort.
"William? Oh doch, das bin ich. Er ist mein Sohn. Ich bin Stiefelriemen Bill Turner. Ihr kennt meinen Sohn? Wo ist William? Geht es ihm gut?", fragte er.
"Ja", sagte ich. "Ja, es geht ihm gut. Er segelt mit Captain Sparrow."
"Was? Erzählt mir mehr..."
"Tut mir Leid, Mr. Turner. Aber ich habe tote Seelen abzuliefern!", redete ich mich raus und rauschte aus der Kajüte.
Ich hätte damit gewettet, dass ich aussah, wie jemand, der gerade eine Begegnung mit einem Geist hatte. Stiefelriemen verwirrte mich. Er hatte bestimmt ein paar Geheimnisse. Aber das tat jetzt nichts zur Sache.
Geradewegs ging ich auf das hölzerne 'Rad' in der Mitte des Schiffes zu. Ich versuchte, es zu drehen, doch allein schaffte ich es nicht. Ich rief um Hilfskräfte. Ein paar starke Leute aus der Crew kamen an und schafften es, das Rad zum drehen zu bringen. Ich rannte an die Reling und sah ins Wasser. Es sah so aus, als würde das Wasser höher steigen, dabei sanken wir bloß in die Tiefe. Immer weiter. Das Wasser hatte schließlich die Kanonen erreicht und wir sanken noch tiefer. Und immer tiefer... Dann rann ein Rinnsal des Wassers auch schon über das hölzerne Schiffsdeck und ihm folgten mehrere größere Wassermengen. Das Wasser hatte bereits den Teil meines Stiefels, in dem mein Fuß steckte eingeschlossen, sprich: alle Füße an Bord wurden nass. Doch wir sanken noch tiefer... Immer höher kam auch das Wasser. Ich hielt mich an der Reling fest. Als das Wasser mir bis zum Kinn stieg, holte ich noch einmal ganz tief Luft. Dann war mein Kopf ebenfalls unter Wasser. Ich blickte hinauf zur Oberfläche. Der Hauptmast war noch nicht mal bis zur Hälfte versunken! Mist! Wie lange dauerte das alles denn? Also sooo lange konnte ich nun auch wieder nicht die Luft anhalten...
Ich sah mich hektisch um. Dann entdeckte ich Troy. Ich schwamm auf ihn zu und blickte ihn unwissend an. Troy deutete auf das Steuerrad und machte mit den Armen Lenkbewegungen. Sollte ich Steuern? So ein Quatsch! Das brachte doch unter Wasser gar nichts! Ich tippte mir mit dem Finger gegen die Schläfe, zum Zeichen, dass er verrückt war. Doch Troy ließ nicht locker. Er schlug sich mit der Hand vor die Stirn und deutete erneut in Richtung Steuerrad. Sollte ich ihm vertrauen? Ich meine, er war viel länger an Bord der Flying Dutchman, als ich, nicht wahr?! Also schwamm ich auf das Steuerrad zu, ergriff es und drehte es nach rechts. Nichts passierte. Ich tauschte einen Blick mit Troy. Der verdrehte die Augen und deutete mit dem Daumen nach links. Oh! Darauf hätte ich eigentlich selbst kommen können. Ich drehte das Steuerrad nach links und sofort tauchten wir wieder auf.
Das Wasser floss wieder ins Meer, welches total ruhig war. Nicht eine einzige Welle schlug es. Ich war nun völlig nass. Aber auch die Crew und das Schiff. Toll! Jetzt durfte ich jeden Tag so was machen, oder wie?! Ich wrang mein Hemd aus. Mist! Es war teilweise durchsichtig geworden. Naja, das sollte mir egal sein. Ich war schließlich der Captain. Und wenn mich jemand schräg ansehen sollte, würde er schon seine Strafe bekommen. Aye, auch und vor allem vor jungen Frauen sollten Piraten - und wenn sie noch so unanständig waren - Respekt haben.
Ich schaute geradeaus und erkannte am Horizont eine... Insel? Es sah jedenfalls so aus wie 'ne Insel. Obwohl... Sanddünen würden es wohl eher treffen. Es sah langweilig und eintönig weiß dort aus. Ob das das Totenreich war? Bestimmt.
"Troy?", rief ich und winkte ihn herbei.
Troy kam auf mich zu. "Was gibt's?!"
"Ist das da drüben das Totenreich?"
"Nicht direkt, aber ja", antwortete er.
"Was denn jetzt? Nicht direkt oder ja?"
"Naja, es ist ein gottverlassener Ort. Es ist eine Art... Zwischenaufenthalt für tote Seelen. Das Totenreich nimmt nicht alle auf einmal in sich auf, verstehst du? Manche Seelen müssen vorerst dort warten und bestraft werden."
Ich nickte. Ich verstand.
Troy fuhr fort: "Die Leute, die sich dort befinden, warten darauf, in das Totenreich aufgenommen zu werden, sie sitzen ihre Strafe ab, je nachdem wie sündhaft sie in ihrem Leben gehandelt haben, oder was genau sie mit Davy Jones am Hut hatten. Eine Besonderheit ist allerdings, dass der Captain der Flying Dutchman, das bist du, die Leute auch vor dem Tod verschonen kann."
"Okay, das verstehe ich soweit. Könnte ich jetzt theoretisch auch Davy Jones zurückholen?"
"Nein. Diese Person muss noch auf diesem Schiff begnadigt werden. Aber du darfst nur eine Person retten, Jessie. Nie mehr. Bloß eine! Und das immer dann, wenn du hierhin zurückkehrst", erklärte mir Troy und kam einen Schritt auf mich zu.
"Danke", sagte ich und sah ihn staunend an.
Er sah mich ebenfalls an. Zu lange, wie ich es empfand. Also drückte ich ihn weg und wandte mich wieder voll und ganz dem Steuern zu. Ich wusste, dass Troy mich beobachtete. Doch das war mir egal. Sollte er doch gucken.
Als wir ein wenig später die 'Insel' erreichten, ließ ich den Anker werfen. Ich öffnete die Tür, welche unter das Deck führte. Das Heulen drang an meine Ohren.
"Ähm... Leute?!", rief ich vorsichtig. "Ich meine... ihr armen Seelen! Könntet ihr vielleicht hochkommen, damit ich euch auf den Weg ins Totenreich bringen kann?!"
Ich war nicht gerade überzeugt davon, dass das auf diese Art und Weise funktionieren würde, aber zu meiner großen Überraschung, klappte es tatsächlich. Viele Menschen, völlig angezogen und in Lebensgröße, kamen auf das Deck. Alle hatten sie aschfahle Haut und schlurften mit Trauermienen über das Deck. Ehrlich, als wenn jemand gestorben wäre... Na gut, das stimmte ja. Sie selbst waren ja gestorben. Von ihnen ging auch dieses schreckliche Heulen aus... Meine Güte! Das ging mir ja schon ein wenig auf den Keks. Und unheimlich war es auch.
"Okay, also, ihr Süßen", sagte ich zu den toten Seelen. "Einen von euch werde ich nun verschonen, alle anderen steigen bitte auf meinen Befehl hin in ein Beiboot; ihr werdet dann von Leuten aus der Crew zur Insel gebracht, klar soweit?!"
Keine Regung. Nicht einer veränderte irgendwie die Miene, sagte ein Wort, oder bewegte sich. Na super, das konnte ja was werden... Ich schritt vor ihnen her und betrachtete jeden von oben bis unten. Ich dachte nach. Wen von ihnen sollte ich verschonen? Als ich ungefähr bei der Hälfte angekommen war, hörte ich ein leises Schluchzen. Ich trat einen Schritt weiter, doch hier war eine Lücke. Hier stand niemand. Ich blickte hinab. Zu meinen Füßen kniete eine Person, die den Kopf gesenkt hatte. Auch sie hatte aschfahle Haut. Das Schluchzen ging von ihr aus. Sie schüttelte sich.
"Was seid Ihr?", fragte ich verwirrt und weitete leicht verstört die Augen. "Lebt Ihr oder seid Ihr tot?"
"Ich...", schluchzte die Person, "bin halb tot und halb lebendig... bitte befreit mich, Captain!"
"Steht auf", befahl ich.
Die Person blieb kauernd auf dem Boden hocken.
"Steht auf!", wiederholte ich leicht verärgert.
Die Person stand auf, immer noch mit gesenktem Kopf.
"Seht mich an", verlangte ich und meine Stimme klang kühl.
Vorsichtig und zitternd hob die Person den Kopf. Sie war so groß wie ich. Ich sah sie genau an und weitete die Augen.
"Cutler Beckett?!", hauchte ich.
"Leandra?!", stieß Beckett hervor.
"Was, machst du hier? Ich meine... warum bist du tot? Verzeihung... halb tot?", fragte ich.
"Ich weiß nicht. Jemand hat versucht, mich umzubringen. Er hat sein Werk aber nicht ordentlich verrichtet. Deswegen kann ich wohl noch sprechen und fühlen. Im Gegensatz zu den anderen hier...", sagte er. "Bitte befrei mich, Leandra! Kannst du den Captain dazu überreden, mir das Leben zurück zu geben? Bitte! Damit tätest du mir einen großen Gefallen!"
"Ähm... Cutler... ich... ich bin der Captain", sagte ich.
"Du?", fragte Beckett und starrte mich an. "Du hast Davy Jones...-"
"-umgebracht, ja", vollendete ich den Satz für ihn, und auf Becketts verständnislosen Blick hin, sagte ich noch: "Es war keine Absicht, ja?! Ich hab es mir nicht gewünscht!"
"Gut, also... könntest du mich dann retten. Bitte?"
Ich seufzte. "Sag mir, warum ich ausgerechnet dich verschonen sollte?"
"Weil...", murmelte er. "Weil du... Erbarmen hast...?"
Ich lachte auf. "Soll das eine Frage sein? Wohl kaum."
"Weil... du mir vergibst", versuchte Beckett sein Glück erneut.
Sollte ich? Oder sollte ich ihn noch länger auf die Folter spannen? Obwohl... ich hatte ihn schon lang und oft genug auf die Folter spannen müssen. Wegen meiner Gedanken musste ich kurz ein wenig grinsen.
"Nun gut, du hast eine Chance verdient. Aber das ist die letzte, haben wir uns verstanden?!", sagte ich schließlich.
Beckett nickte kurz und mir entging nicht, dass er erleichtert aufatmete, als ich weiterging.
"Troy!", rief ich. "Schaff' Beckett bitte fort!" Dann schritt ich die Reihe von toten Seelen weiter entlang.
Also wenn das hier Davy Jones' Job gewesen war, konnte ich ihn echt verstehen, warum er keine Lust mehr dazu gehabt hatte, und einen Fluch für seine Freiheit in Kauf genommen hatte. Naja, wie meinte Jack noch gleich? Ich musste durchhalten und Geduld haben. Ich musste Jack vertrauen. Unbedingt!