Nun hatten wir schon seit ungefähr drei Wochen ein und dasselbe Bild vom Pazifischen Ozean vor der Nase. Barbossa hatte mich zum Ausschau halten im Krähennest verurteilt, während Jack mal wieder schrubben musste. Ich sah im Moment durch das Fernrohr, welches Barbossa mir überlassen hatte. Doch da es einfach nichts besonderes zu sehen gab heute morgen - genau wie die letzten zwanzig Tage lang... -, war mir langweilig. Und was half mir gegen Langeweile? Richtig: singen.
"Trying hard to reach out, but when I tried to speak out, felt like no one could hear me. Wanted to belong here, but something felt so wrong here. So I pray I could breakaway."
Ich entfernte das Fernrohr von meinem Auge und begann, damit gegen meine Handinnenfläche zu schlagen, sodass ich mir einen Rhythmus klatschen konnte. Dazu wippte ich mit dem Fuß und nickte mit dem Kopf.
"Want to feel the warm breeze, sleep under a palm tree, feel the rush of the ocean. Faraway..."
Ich klopfte nun nicht mehr mit dem Fernrohr gegen meine Hand, sondern auf den Rand des Krähennestes. Mit der anderen Hand schnipste ich nun im Takt des Fernrohres. Ich mochte es total gerne, Musik zu machen, auch ohne Instrumente.
"I'll spread my wings, and I'll learn how to fly. I'll do what it takes till I touch the sky. I'll make a wish, take a chance, make a change and breakaway. Out of the darkness and into the sun, but I won't forget the place I come from. I'll take a risk, take a chance, make a change and breakaway."
Und zum Ende hin schlug ich das Fernrohr etwas fester auf den Rand des Krähennestes und es machte laut 'Kracks!'. Hoppla?! Sofort senkte ich meinen Blick auf das Fernrohr. In der Mitte - also genau an der Stelle, mit der ich auf das Krähennest geschlagen hatte - befand sich nun eine Delle und in dessen Mitte ein kleiner Riss. Großes hoppla. Hoffentlich würde mir Barbossa nicht allzu böse sein. Ich grinste unschuldig und sah wieder hinaus aufs Meer, wo gerade am Horizont tatsächlich die Insel auftauchte, auf der sich Singapur befand.
Hektisch hielt ich mir das Fernrohr ans Auge. Mein Blick hindurch war jetzt zwar ein bisschen eingedellt, aber immerhin funktionierte es noch. Also konnte Barbossa mir in der Tat nicht allzu böse sein. Und das Fleckchen Erde dort drüben am Horizont war wirklich Singapur.
Ich nahm das Fernrohr vom Auge, beugte mich über den Rand des Krähennestes heraus und versuchte mit Barbossa zu kommunizieren. "Captain Barbossa!", rief ich laut. "Captain Barbossa!"
Barbossa steuerte, bemerkte mich und sah dann zu mir auf. "Aye?!"
"Land in Sicht!", antwortete ich. "Singapur."
"Na endlich!", seufzte Jack und ließ den Wischmopp erleichtert fallen.
"Miss Bones!", rief Barbossa. "Kommt sofort runter vom Krähennest."
"Was?! Wieso das denn?" Ich zog verwirrt die Augenbrauen zusammen.
"Seid Ihr taub? Runter mit Euch!", wiederholte Barbossa.
"Jaja...", murmelte ich leise und kletterte aus dem Krähennest und den Hauptmast herunter.
"Was gibt's?!", fragte ich, als ich vor Barbossa am Steuerrad stand.
"Wir wollen doch nicht, dass Ihr bei Sao Feng eure Kleidung ablegen müsst oder er Euch gar behalten will, oder?", sagte Barbossa mit einem Grinsen im Gesicht. "Das wird nämlich der Fall sein, da er damit rechnen muss, dass Ihr schwer bewaffnet seid. Sie könnten ja davon ausgehen, dass wir Euch mit Waffen vollstopfen können und Ihr nicht kontrolliert werdet, nur weil Ihr eine Frau seid."
"Nee. Natürlich wollen wir das nicht", meinte ich wenig begeistert.
"Nun, dann ab in meine Kajüte mit Euch. Umziehen. Ich habe euch dort schon Kleidung zurechtgelegt. Bitte zieht Euch um und...", Barbossa strich mir durch die Haare, "...bindet Eure Haare hoch und setzt den Hut auf."
"Gut", meinte ich nickend und ging ein wenig verwirrt unter Deck. Seit wann war Barbossa so fürsorglich?
Als ich in seiner Kajüte ankam, fand ich schon einige Kleidungsstücke auf der Koje vor. Na schön... dann wollen wir mal.
Ich zog mein Kleid aus. Dann zog ich die braune Hose, die Stiefel und das Hemd über. Ich holte mein Haarband und ein paar Haarklammern hervor und band mir die Haare zu einem Dutt zusammen. Dann band ich mir ein Kopftuch um die Stirn und zog hier und da ein paar Haarsträhnen darunter hervor. Dann schmierte ich mir ein wenig von einem Kohlestift um den Mund, um den Ansatz eines Bartes darzustellen. Danach setzte ich den Hut auf und betrachtete mich im Spiegel. Sah ich männlich aus? Ja. Zumindest ansatzweise. Doch ein langes, schmales Tuch war noch übrig geblieben. Ich nahm es und band es mir um die Hüfte.
Dann spazierte ich wieder nach oben, suchte Barbossa auf und präsentierte mich ihm. Sein Blick blieb an meinem Tuch hängen und er schüttelte den Kopf.
"Ihr müsst Euch Euren Busen abbinden. So gut es geht jedenfalls", erklärte er sachlich. "Dafür war dieses Tuch bestimmt."
Ich starrte ihn an. Bitte was? Hatte ich richtig gehört?!
"Sonst kauft Euch keiner ab, dass Ihr ein Mann seid, Miss Bones", fügte er hinzu.
"Ich bin ja auch keiner", nuschelte ich.
"Aber es soll so aussehen als wärt Ihr einer."
Ich seufzte. "Schön..." Und ging wieder davon. "Jack, ich brauch mal deine Hilfe..." Ich packte sein Handgelenk und ging mit ihm unter Deck.
"Was denn? Und warum siehst du so... seltsam anders aus?!"
Ich drehte mich zu ihm um. "Seltsam anders?", wiederholte ich.
"Hmm", machte Jack bloß.
Ich zog ihn mit mir in Barbossas Kajüte und schloss die Tür hinter uns.
"Wir müssen mich in einen Mann verwandeln."
"Na, so siehst du auch aus", meinte Jack.
"Noch nicht ganz...",
Meine Hände wanderten unter das Hemd und ich zog mein Mieder aus. Jack starrte mich fragend an. Ich nahm das Tuch, stopfte es unter das Hemd, wickelte es so eng wie möglich um meinen Oberkörper und reichte Jack die Enden nach hinten.
"Knote das mal bitte zu. Das muss ich machen", sagte ich.
Jack gab ein verstehendes 'Hm-m' von sich und band einen festen Knoten.
"Danke", sagte ich und wir gingen wieder an Deck.
"Sprich auch mal etwas anders", meinte Jack dann und setzte sich mit mir auf den Boden. "Du musst auch ein bisschen männlicher klingen."
"Hallo, ich bin ein Mann", sagte ich mit tieferer Stimme.
"Du bist Pirat! Wilder", sagte Jack.
"Hallo, ich bin ein Pirat."
Jack sah mich mit einem 'Ich-bitte-dich!'-Blick an. "Ein wilder Pirat sagt nicht 'hallo'."
Ich räusperte mich. "Ahoy, ich bin ein wilder Pirat!"
"Perfekt!", hörte ich eine Stimme hinter mir und Barbossa tauchte auf. "Jetzt brauchen wir nur noch einen Namen für Euch, Miss Bones."
"Wie wär's mit..." Jack legte überlegend den Zeigefinger ans Kinn.
"Mein Name ist Luke Hawkins", sagte ich spontan mit tiefer Stimme und schüttelte Jack und Barbossa die Hand. "Sehr erfreut, Captain Sparrow, Captain Barbossa."
"Mr. Hawkins, Euer Gürtel", sagte Barbossa sehr zufrieden, spielte direkt mit und legte mir einen Waffengürtel um die Hüfte; an ihm befand sich eine Schwertscheide samt Schwert und eine Pistole.
"Ich danke Euch, Captain Barbossa", sagte ich grinsend.
"Nun bist du ein echter Mann, Jessie", meinte Jack grinsend. "Herzlichen Glückwunsch."
"Könnt Ihr Euch nicht meinen Namen merken, Captain Sparrow?!", sagte ich spaßeshalber. "Ich heiße Luke. Und für Euch Mr. Hawkins, klar?!"
Jack grinste. "Du bist gut als Mann."
"Hättest du etwas anderes erwartet? Ich habe immerhin mein ganzes Leben unter Männern verbracht", antwortete ich.
Nun war ich also ein Mann. Ein Pirat namens Luke Hawkins. Super! Ich war echt total begeistert. Besonders weil mir meine Brüste ziemlich weh taten. Aber naja, damit musste ich jetzt wohl klarkommen.
Und so kam es also, dass wir am Nachmittag den Hafen von Singapur erreichten. Die Pink Pearl legte an, der Anker wurde geworfen und das Schiff wurde am Steg befestigt. Barbossa, Jack und ich gingen von Bord. Wir liefen gerade am Hafen entlang, da kamen uns auch schon Hafenwachleute aus Singapur entgegen.
"Was wollt Ihr und wer seid Ihr?", fragte einer der beiden.
"Captain Barbossa."
"Captain Jack Sparrow."
"Jes- ähm... Luke Hawkins."
Einer der beiden musterte mich misstrauisch. Hatte er mich etwa jetzt schon durchschaut? Offenbar nicht, denn er sah Jack und Barbossa mit demselben Blick ebenso forschend an.
"Wir möchten zu Sao Feng gebracht werden", forderte Barbossa, blieb aber höflich.
"Mitkommen", sagte einer der beiden und die Wachleute führten uns über das Hafengelände. Dann ging der Weg durch die Stadt weiter. Es war Markt in Singapur und man hörte viele Leute, die ihre Produkte verkaufen wollten und durch die Gegend brüllten.
Nach einer Weile erreichten wir dann einen Palast. Ich staunte. Der Palast sah wirklich beeindruckend aus. Sao Feng musste ein Vermögen besitzen. Die beiden Wachleute führten uns in den Palast. Dort drin war es sehr warm, stickig und unangenehm schwül. Es war nur schwach beleuchtet und es standen viele Wachen herum. Ich sah mich interessiert, aber auch leicht verängstigt um.
"Ablegen", sagte ein Wachmann und hielt uns zurück, woraufhin wir unsere Waffen ablegten.
Dann ging es weiter und durch eine Tür in einen anderen Raum. Hier war es noch viel stickiger, wärmer und schwüler, als in dem Raum davor. Ich wedelte mir mit der Hand etwas Luft zu und fragte mich gerade, wie lange ich denn eigentlich vorhatte, hier drin zu überleben? Momentan wirkten zwei Minuten unvorstellbar.
Dann ertönte eine tiefe, leise, ruhige Stimme: "Mehr Dampf..."
Und aus einer komischen Anlage kam Wasserdampf hervor. Himmel! Es war so unangenehm... Wie hielten die das bloß alle aus?
"Sao Feng. Ihr habt Besuch."
Und hinter einer Säule tauchte ein Mann auf. Jack versteckte sich sofort hinter meinem Rücken. Was sollte das denn?
Aber ich kümmerte mich nicht weiter um ihn, sondern betrachtete Sao Feng. Er hatte eine Glatze und viele Narben am Kopf. Dann trug er noch einen langen Bart und lange, edle Gewänder. Musste der nicht tierisch schwitzen? Denn auf meiner Haut bildete sich schon jetzt Schweiß, obwohl ich weniger und vermutlich auch leichtere Kleidung trug, als er. Ich hatte sogar Angst, dass mein gemalter Bart verschmierte. Das wäre in der Tat ungünstig.
Seine Augen musterten uns. "Captain Barbossa", begrüßte er Barbossa.
"Sao Feng", begrüßte Barbossa ihn ehrfürchtig.
"Und wer seid Ihr, Junge?" Sao Feng sah nun mich an.
"Luke Hawkins", antwortete ich.
Jacks Hände schlossen sich um meine Oberarme. Ich schielte zu ihm herunter. Er lugte gerade langsam und vorsichtig hinter mir hervor.
"Ach", sagte Sao Feng. "Wen haben wir denn da?" Er grinste gehässig. "Jack Sparrow."
Jack richtete sich auf und schritt um mich herum, sodass er nun vor mir stand. "Ich bevorzuge es, CAPTAIN Jack Sparrow genannt zu werden, klar soweit?!"
"Oh... deine große Klappe hast du nicht verloren, Jack Sparrow", sagte Sao Feng und musterte ihn feindselig. "Also, was wollt Ihr?"
"Euer Amulett", sagte Barbossa klar und deutlich.
Sao Fengs Blick verfinsterte sich. "Mein Amulett?", wiederholte er.
"Aye."
"Und wieso sollte ich Euch mein Amulett überlassen?"
"Weil ich darum bitte", sagte Barbossa. "Ihr bekommt außerdem eine Gegenleistung."
"Gut...", stimmte Sao Feng zu. "Eine faire Gegenleistung. Das ist die Bedingung."
"Wie wär's mit Sparrow, wenn Ihr wollt?", schlug Barbossa vor.
"Was?!", fragte ich.
"Was?!", fragte Jack.
"Nein. Neinnein", sagte Feng, was mich sehr erleichterte. "Den könnt Ihr behalten. Wie wäre es stattdessen mit dem Jungen? Er ist jung und man könnte ihn gut für die Seefahrt gebrauchen", überlegte Feng und betrachtete mich.
"Ich doch nicht! Ich bin seekrank, um genau zu sein. Bin ich länger als zwei Stunden auf einem Schiff, muss ich mich übergeben", log ich. "Eimerweise. Also, das wäre keine so gute Idee!"
"Stimmt, so etwas kann man wirklich nicht in der Schifffahrt gebrauchen. Dann vielleicht doch Sparrow...", überlegte Feng wieder.
"Ich... ähm... bin auch seekrank!", sagte Jack schnell und grinste unschuldig.
Ach, Jackie! Das war so typisch... Ich hatte Mühe, mir ein Grinsen zu verkneifen.
"Moment!", warf Barbossa. "Ich brauche Sparrow."
Schön, dass es dir noch eingefallen ist, du Spatzenhirn!, dachte ich mir meinen Teil dazu und schlug mir innerlich mit der Hand gegen die Stirn.
"Genau!" Jack nickte unschuldig. "Er braucht ihn!"
"Was könnt Ihr mir sonst anbieten? Sonst muss ich Euch leider enttäuschen und mein Amulett behalten", folgerte Sao Feng aus unseren Überlegungen.
"Fünfundzwanzig Prozent meiner letzten Beute", schlug Barbossa dann vor.
Unser Gegenüber lachte. "Die ganze Beute."
"Dreißig Prozent."
"Achtzig Prozent", forderte Sao Feng.
"Die Hälfte - fünfzig Prozent und keine Perle mehr!"
"Schön, fünfzig Prozent." Sao Feng holte eine Kette hervor und band sie sich ab. "Das Amulett gehört Euch. Nehmt zwei Männer mit und gebt ihnen meinen Anteil des Tauschhandels."
Barbossa schubste mich nach vorn. Ich ging auf Sao Feng zu und er legte das Amulett auf meine ausgestreckte Hand. Ich tauschte einen Blick mit Barbossa; er nickte mit dem Kopf. Ich verstand und legte mir die Kette um den Hals. Den Anhänger, sprich das Amulett, ließ ich in meinen Ausschnitt und unter mein Hemd gleiten.
"Ich bin Euch sehr verbunden, großer Sao Feng, und stehe in Eurer Schuld", sagte Barbossa - für meinen Geschmack etwas zu einschleimend - und verbeugte sich.
Er stieß Jack an. Jack gehorchte und auch er verbeugte sich. Jack stieß mich an und ich verbeugte mich ebenfalls. Aber nur ganz leicht, sonst würde mir mein Hut vom Kopf fallen und mich wortwörtlich enthaupten. Und das wäre gar nicht gut! Absolut nicht gut!
Dann verließen wir gefolgt von zwei Wachen Sao Fengs den Palast.
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Lied: Kelly Clarkson - Breakaway