Ich löste mich von seinen Lippen, zog meinen Kopf langsam zurück und öffnete die Augen. Jack folgte meinem Beispiel, setzte sich auf und half mir ebenfalls hoch. Ich lächelte.
"Am besten, ich ziehe mir etwas an und wir gehen mal raus", schlug ich vor. "Ein bisschen Bewegung könnte mir ganz gut tun. Ich lasse mich doch nicht durch meine Wunden einschränken."
Jack grinste. "So kenn ich dich!"
Ich lächelte, stand auf und merkte, dass meine Beine ziemlich weich waren und ich mich kaum oben halten konnte. Ach, komm schon, Jessie! Das kann doch nicht so schwer sein! Ich ging mit wackeligen Beinen auf das blutverschmierte Hemd zu, welches ich gestern noch getragen hatte. Ich wollte es gerade überziehen, als Jack ebenfalls aufstand und durch die Kajüte latschte. Er kniete sich vor seinen Schreibtisch auf den Boden und zog die Kleidertruhe hervor.
"Ich würde es bevorzugen", sagte er und klappte den Deckel auf, "wenn du etwas anderes tragen würdest, Schätzchen. Beispielsweise ein Kleid. Außerdem ist dein Hemd blutig, das ist nicht gerade vorteilhaft. Also versteh mich nicht falsch, du gefälligst mir in allem, was du trägst, aber ich glaube es ist auch für dich angenehmer nicht in blutiger Kleidung rumzulaufen."
"Schön. Wenn du noch eins übrig hast", sagte ich erfreut und ließ das Hemd fallen.
"Und bevor du dich anziehst werde ich dir helfen noch ein weiteres Mal deine Wunden mit Tia Dalmas Salbe zu behandeln. Wir wollen ja schließlich, dass du bald keine Schmerzen mehr hast", erklärte Jack.
"Ist gut", sagte ich nickend und ging zu ihm herüber.
Er durchstöberte gerade die Kiste und holte hier und da ein paar Kleider hervor. "Du darfst dir eins aussuchen."
"Oh, wie großzügig", meinte ich und wir tauschten kurz einen grinsenden Blick; dann kramten wir weiter.
Wenig später trug ich dann ein hübsches, marineblaues Kleid, was mir fast bis zu den Knien reichte und lockere Ärmel hatte. Darüber trug ich ein schwarzes Korsett, welches Jack mir angedreht hatte, weil er meinte, es sähe außerordentlich reizend aus.
"Bist du sicher, dass ich das hier anlassen soll?", fragte ich unsicher, als Jack hinter mir stand und in meinen Haaren herumwuselte. "Ich fühl mich ein bisschen... anders."
"Aye, Liebes", sagte er und grinste mir durch den Spiegel entgegen. "Du siehst bezaubernd aus."
"Danke", antwortete ich.
Jack lief um mich herum und musterte mich. Dann blieb er vor mir stehen und legte mir meine Haare rechts und links über die Schultern.
"Bleib genauso stehen, Liebes", meinte er und hoppste - es gab irgendwie keine vernünftige Definierung für seine momentane Fortbewegungsart - mit den Armen wedelnd durch seine Kajüte. Offenbar suchte er etwas.
"Kann man dir behilflich sein?", fragte ich.
"Nein", antwortete er schnell, während er irgendwo unter seinem Schreibtisch herum kramte. "Ich komm schon klar. Irgendwo muss das verflixte Ding doch sein."
"Was suchst du denn?"
"Nichts."
"Wie nichts?"
"Nichts."
"Jackie", seufzte ich. "Wie lange brauchst du denn, um nichts zu finden?! Ist es etwa-"
"Hab es!", hörte ich Jack stolz rufen und er kroch unter seinem Schreibtisch hervor.
Er kam mit einem geheimnisvollen Grinsen auf mich zu und stellte sich so vor mich, dass ich mein Spiegelbild nicht mehr sehen konnte. Dann hob er seine rechte Hand. Dort erkannte ich einen Kohlestift.
"Dein Lidstrich ist gestorben", erklärte er mir, als ich ihn verdutzt anblickte. "Ich darf doch, oder?"
Ich nickte stumm. Das glaubte ich jetzt nicht! Da schminkte mich Jack doch tatsächlich. Mit der linken Hand hielt er mein Gesicht fest. In der rechten befand sich der Kohlestift, mit dem er nun begann, meine Augen zu betonen. Ich fand es schön. Ich mochte es, wenn mich jemand schminkte oder mir die Haare machte.
"Augen zu", sagte Jack und ich gehorchte.
Ich spürte, wie sich Spitze des Stiftes vorsichtig auf mein Augenlid setzte und einen Strich zog, der in der kleinen Mulde, in der das Oberlid auf das Unterlid traf, endete. Mit meinem anderen Auge geschah das gleiche.
"Augen auf", sagte Jack und ich öffnete sie.
Ich blickte über Jacks Schulter und in den Spiegel. Ich musste ehrlich zugeben: es sah toll aus! "Wow", meinte ich. "Danke Jack, das sieht super aus!"
"Ich kann es halt", erklärte Jack zwinkernd.
"Natürlich", sagte ich grinsend. "...wo wir gerade bei Veränderungen sind... was hältst du davon, wenn ich dich jetzt mal ein bisschen verändere, hm?"
"Was?!"
"Naja, ich könnte dir ein Kleid aussuchen, deine Dreadlocks flechten und dich schminken", schlug ich vor und strahlte.
"Auf keinen Fall", sagte Jack entsetzt und ging durch die Kajüte, um seinen Kohlestift nach Hause zu bringen.
"Jack!", sagte ich streng. "Du durftest das auch bei mir machen."
"Ich bin ja auch der Captain", argumentierte er.
"Und wer bin ich? Die Putzfrau der königlichen Marine?! Wohl kaum!" Ich verschränkte die Arme vor der Brust.
"Nein, Jessie, nein."
"Du bist blöd, Jack", schmollte ich.
"Du würdest mich verunstalten."
"Wenn das der Fall sein sollte, brauche ich ja nicht mehr viel zu ändern", grinste ich.
"Frech wie immer", kommentierte Jack. "Aber es bleibt dabei: nein."
"Schade", meinte ich kichernd.
Und so kam es also, dass wir nun hier draußen am Achterdeck standen. Jack steuerte und ich hockte neben ihm auf dem Boden und beschäftigte mich mit meinen Haaren, indem ich immer wieder eine Strähne um meinen Finger wickelte. Großartig viel konnte ich immerhin auch nicht tun mit meinen heilenden Wunden.
"Captain!", rief auf einmal jemand aus der Crew. "Captain! Wir haben etwas gefunden!"
"Übernimmst du mal kurz?", fragte Jack mich.
"Klar", sagte ich überrascht und übernahm das Steuer.
Er vertraute mir seine Pearl an. Es war zwar nicht das erste Mal, aber trotzdem irgendwie aufregend, da es nicht gerade häufig vorkam.
Jack folgte dem Mann aus seiner Crew und stieg die Stufen auf das Hauptdeck hinab. Ich blickte nun geradeaus zum Horizont. Es war ein wahrlich schöner Tag. Das Kleid wehte mir um die Oberschenkel und meine Haare um meinen Kopf. Es machte Spaß, ein so großes Schiff zu steuern. Ich hatte die Verantwortung für das Ganze hier. Es war ein tolles Gefühl! Ich hatte von Vater gelernt, wie man ein Schiff steuerte. Als ich sechzehn Jahre alt gewesen war. Schließlich musste man das als Piratin ja irgendwann können.
"Jessie!", rief Jack und kam mit einem Pergamentblatt auf mich zugeeilt. "Ein Brief für dich, Liebes."
"Ein Brief?", fragte ich misstrauisch und übergab Jack wieder das Steuerrad. "Wie zur Hölle kommt ein Brief auf einmal hierher?"
"Aye", antwortete er und gab mir das Pergamentblatt. "Mr. Cotton und sein Papagei haben so eine dämliche Möwe gefunden, die dieses Ding bei sich trug."
"Und woher weißt du, dass es für mich ist?"
"Dreh es um, Schätzchen, da steht in roter Tinte dick und fett dein Name drauf."
Ich drehte das Pergamentblatt um. Tatsächlich! 'Jessie Bones'. Ich entfaltete das Pergamentblatt und las den Brief:
Meine liebste Jessie,
Ich weiß, ich habe lange nichts mehr von mir hören lassen. Ich hoffe euch geht es gut.
Hiermit lade ich euch alle zu meiner Hochzeit ein. Ich heirate in einer Woche auf den Bahamas, in dem kleinen hübschen Örtchen namens Hog Cay, direkt am Strand. Findet euch bitte in den nächsten Tagen dort ein. Eine persönliche Einladung für deinen Vater habe ich ebenfalls losgeschickt.
Charlotte und ich würden uns übrigens freuen, wenn du auf der Feier ein wenig singen würdest.
Es grüßt und vermisst dich,
Dein Cousin David
"Jack", sagte ich.
"Aye?!"
"Ich brauche ein Hochzeitsgeschenk!"
"Wie bitte?!", meinte er und drehte sich zu mir um. "Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich dich-"
Ich lachte; er dachte doch tatsächlich, dass ich uns beide meinte. "Nein, du Blitzmerker. Weißt du, was das hier ist?"
Jack zog die Augenbrauen hoch. "Nein, natürlich nicht. Aber ich wette, du wirst es mir jetzt sagen."
"Das hier ist eine Einladung zu der Hochzeit meines Cousins David", erklärte ich lächelnd und wedelte mit dem Brief herum.
"Eine Hochzeit?!", sagte Jack erfreut. "Ich liebe Hochzeiten! Drinks für alle!"
Ich lachte. "Ja, es wird bestimmt Drinks für alle geben. Ich soll singen", teilte ich ihm mit.
"Na herzlichen Glückwunsch", meinte Jack.
"Danke, aber... kriegen wir die Hochzeit überhaupt in unseren Zeitplan? Ich meine wenn, dann nehm ich dich doch mit! Schließlich gehörst du... ja irgendwie zu mir", gab ich zu bedenken.
"Bestimmt. Wann ist denn die Feier zur Schließung des Bundes der Ehe?", fragte Jack.
"In einer Woche. Auf den Bahamas. Bei Hog Cay. Weißt du wo das ist?"
"Klar", sagte Jack, wirbelte zu mir herum und blickte voller Stolz zu mir. "Sieh mich an."
Ich lächelte. "Jack", sagte ich dann aber etwas streng, kam ihm näher und sah ihm eindringlich in die Augen. "Benimm dich aber bitte."
"Klar, was denkst du von mir?!", antwortete er, warf einen Blick auf seinen Kompass und drehte das Steuer herum. "Setzt die Segel Richtung Norden!", befahl er. "Wir umsegeln die Ostküste Kubas, machen Halt in Punta de Maisí und segeln dann weiter zu den Bahamas auf eine Hochzeit!"
"Hochzeit?", fragte ein Mann aus der Crew verwirrt und alle anderen zuckten ebenso verwirrt die Schultern.
"Starrt nicht so blöd! Jessies Cousin heiratet und hat sie eingeladen", erklärte Jack seiner Crew.
"Und er hat mit Sicherheit nichts dagegen, wenn die Feier mit euch noch größer wird", fügte ich hinzu.
"Also, macht schon, setzt die Segel!", befahl Jack und die Crew gehorchte.
"Nein, ehrlich, Jack. David ist mir wichtig. Benimm dich bitte wirklich", griff ich nun das Thema von vorhin wieder auf.
"Liebes. Habe ich dir je den Anlass dazu gegeben zu denken, ich könnte mich nicht benehmen?", fragte er mich.
"Ja, Jack. Das hast du allerdings." Ich hob die Augenbrauen, sah ihn von der Seite her an und musste anfangen zu grinsen, da sein Blick so schön verdutzt und unschuldig zugleich war.
Besagter Blick verwandelte sich daraufhin ebenfalls in ein Grinsen und er zwinkerte mir zu. Dann sah er wieder geradeaus aufs Meer hinaus.