Schwermütig zog ich mich aus Saimons Geist zurück. Hier konnte ich nichts tun. Langsam zog ich meine Hände vom Kopf des Jungen zurück. Ich wagte es nicht, zu Nawin zu sehen. Jedoch spürte ich seinen Blick. Er war erwartungsvoll, aber mit einer düsteren Vorahnung. Schweigend schüttelte ich meinen Kopf. Es tat mir leid. Alles.
Das war der Moment, indem Nawin neben mir zusammenbrach. Kraftlos saß er am Boden, kämpfte mit den Tränen. Dass das wohl der schlechteste Moment überhaupt dafür war, brauchte ich ihm wohl gar nicht erst zu sagen. Mithilfe meiner Fähigkeiten hielt ich die Jäger, wie auch Saimon auf Abstand. Dieser hatte Nawin als sein nächstes Ziel anvisiert. Seine ausgestreckten und leicht gekrümmten Finger verrieten mir, dass er jetzt wieder drauf und dran war, seinem älteren Bruder die Augen auszukratzen.
"Nawin!", zischte ich, als es immer mehr Jäger wurden. "Reiß dich bitte wieder zusammen!" Ich wusste, dass es ziemlich unbarmherzig von mir war, Nawin jetzt so anzufahren. Doch die Umstände entschuldigten mein Verhalten.
"Das ist nicht Saimon.", murmelte Nawin. "Nicht mehr." Mit wackeligen Beinen erhob er sich. Die Leere in seinen Augen sprach Bände. Mir entging jedoch nicht, wie die Energie durch seinen gesamten Körper strömte und sich an einem Punkt zu sammeln begann. Die Leere wich Zorn. Nawin ballte seine Hände zu Fäusten. "Ihr habt mir meinen Bruder genommen!", zischte er. Seine Stimme bebte gefährlich. Nawin verlor die Kontrolle. Schlagartig verfärbten sich seine braunen Augen schwarz. Dann war es um ihn geschehen. Anders als ich war er nicht in der Lage, all seine negativen, zerstörerischen Gefühle zu kontrollieren, die diesen Zustand so unberechenbar machten.
Nawins Atem war ruhig. Gleichmäßig. Der Hauptteil seiner Gefühle war verbannt. An irgendeinem Ort, den Nawin nicht erreichen konnte. Zumindest nicht allein. Nicht jetzt. Gewissenlos machte Nawin eine kurze Handbewegung, die die Jäger in seiner Umgebung schreiend zu Boden lassen ließ. Kurz darauf, nach dem sie sich ein wenig vor Schmerzen gewandt hatten, versetzte Nawin ihnen den Todesstoß. Er schickte noch ein wenig seiner Magie in ihre Körper. Ein letztes Zucken. Tod. Keine einzige Regung.
Ein zufriedenes Lächeln erschien auf Nawins Lippen. Ich trat einen Schritt zurück. Jetzt durfte ich bloß nicht seine Aufmerksamkeit auf mich ziehen. Ich wollte nicht gegen Nawin kämpfen. Jetzt musste ich bloß aufpassen, dass er seine Zerstörung gegen die richtigen wandte.
Zu meinem Entsetzen wandte sich Nawin gegen seinen Bruder. "Du bist nicht mehr Saimon.", zischte Nawin mit einem bedrohlichen Unterton in der Stimme. O nein! Das würde er nicht tun! Würde er die Kontrolle wiedererlangen, würde sein Gewissen Nawin zerstören! Doch noch ehe ich auch nur einen Finger rühren konnte, begann Saimon schrill zu schreien. Der zwölfjährige Junge hatte keine Chance. Er war sofort tot. Leblos klappte der kleine Körper in sich zusammen.
Fassungslos starrte ich auf die Kinderleiche. Nein. Nein! Das durfte nicht sein! Weshalb hatte ich nichts unternommen? Ich hätte es doch gekonnt! Nawin würde sich das niemals verzeihen können! Mein Körper zitterte. Saimon war doch noch ein Kind! Jetzt verfluchte ich es, in diesem Zustand weiterhin einen klaren Kopf und ein Gewissen zu haben. Weshalb konnte es bei mir jetzt nicht wie bei Nawin sein? Ich würde all diese Jäger bezahlen lassen. Ohne nur einen Funken Schuldgefühle zu haben.
Gleichgültig wandte Nawin sich von der Leiche seines kleinen Bruders ab. Er hatte seine nächsten Opfer bereits gefunden. Anders, als Manou es uns vorausgesagt hatte, griffen die Obscura nicht wahllos irgendjemanden an. Zwar stimmte es schon, dass sie keine Kontrolle über sich hatten. Doch durchaus unterschieden sie noch zwischen Verbündeten und Feinden. Ja, es war ein Gemetzel. Ja, es war teilweise blutig. Aber sie griffen nur die Jäger an. Zumindest noch. Was, wenn es keine Jäger mehr gab, die sie töten konnten?
Ich sah mich um. Wer hatte bisher alles die Kontrolle verloren? Mein Blick huschte suchend durch die Massen. Die erste Obscura, die ich entdeckte, war Desdemona. Diese war wortwörtlich explodiert. Ihre Augen waren schwärzer als ihre Schatten. Ihre Miene glich einer wütenden Furie. Desdemona wirkte wie eine Todesgöttin. Außerdem schien sie im Zentrum der Jäger zu stehen. Von Schatten umringt, ließ sie keinen Jäger auch nur in ihre Nähe kommen. Ein Schatten nach dem nächsten schoss auf die Jäger zu, erstickte ihre schmerzvollen Schreie im Keim oder entfachte ganze Orchester davon. Sie ließ sich von nichts ablenken. Ab und zu schossen die Schatten auch aus ihrem Körper heraus, wie es bei mir der Nebel getan hätte.
Desdemona brauchte ganz offensichtlich keine Hilfe. Sie konnte sich gut selbst verteidigen.
Ein kurzes Erdbeben brachte mich ins Wanken. Ich suchte nach der Quelle. Überraschender Weise fand ich Will vor, der gegen vier Elementary kämpfte, deren Element eindeutig Erde war. Überraschend war nicht, dass Will gegen die Elementary kämpfte. Sondern, dass er wohl tatsächlich die Kontrolle verloren hatte. Stirnrunzelnd nahm ich das hin. Auch, wenn ich nicht so einfach glauben konnte, dass Will einfach so seine Kontrolle verloren oder aufgegeben hatte. Da auch mein Bruder super alleine klar kam, schwenkte mein Blick weiter. Jedoch nur zwei Meter. Meine Augen klebten an einer Leiche. Eigentlich nicht verwunderlich. Schließlich war das hier ein Kampf zwischen zwei, seit Jahrhunderten, verfeindeten Fronten.
Entsetzen überkam mich. Ungläubig starrte ich auf die Leiche. Nein. Das durfte nicht sein. Bitte nicht. Sie konnte nicht ... Sie war doch so ... Wie?
Mein Körper war wie erstarrt. Keiner meiner Muskeln schien mir gehorchen zu wollen. Ich hatte nicht einmal mitbekommen, dass meine Großmutter ihr Leben gelassen hatte. Meine Augen füllten sich mit Tränen. Genau vor so etwas hatte ich Angst gehabt. Ich hatte meine Familie doch gerade erst gefunden. Und jetzt war meine Großmutter tot. Ich würde niemals mehr die Chance haben, sie richtig kennen zu lernen. Steif, wie ein Roboter, bewegte ich mich langsam auf Cecile zu. Ihre Augen waren offen, starrten ins Leere. Ihre eine Hand lag noch ausgestreckt am Boden. Wenige Meter von Will entfernt. Die beiden mussten zusammen gegen die Jäger gekämpft haben.
Will ließ sich von nichts und niemandem aufhalten. Er mähte alle Jäger nieder, die ihm in die Quere kamen. Selbst von dem ein oder anderen Feuerball ließ er sich nicht stören. Er wich kurz aus und schickte den Absender in die Hölle. Will war zu einem Orkan geworden. Ein Orkan, in dessen Nähe ich mich lieber nicht wiederfinden wollte. Langsam zog ich mich von ihm und Cecile zurück. Meine Tränen schluckte ich hinunter. So schwer es mir auch fiel, ich durfte mich nicht ablenken lassen. Es konnte meinen Tod bedeuten.
Erst jetzt wurde ich mir auch wieder meiner brennenden Schmerzen bewusst. Doch auch sie musste ich beiseite schieben. Ich durfte mich von nichts einschränken lassen. Von nichts.
Später durfte ich in Ruhe trauern. Vorausgesetzt, es würde ein Später geben. Im Moment musste ich mich auf mein eigenes Leben konzentrieren. Ich wusste nicht, was mich so denken ließ. Vielleicht hatte mein momentaner Monster-Zustand doch noch Einfluss auf mich, meine Gefühle und mein Denken. Doch im Augenblick war ich ziemlich froh darüber. Es erlaubte mir, mich auf das Wesentliche zu konzentrieren.
Ein Jäger schoss eine Feuersalve in meine Richtung, doch ich ließ sie ersticken und ein kurzer Blick in seine Augen ließ ihn wie eine Marionette zusammenklappen. Er stand nicht wieder auf.
Mein Blick fiel auf Liam, der ebenso wie ein paar der Schüler und Eltern die Kontrolle verloren hatte. Ich entdeckte tiefe Wunden an seinem Körper. Vielleicht nahm er sie gar nicht wahr. Jedenfalls wirkte es nicht so, als würden sie ihn einschränken.
Ich entdeckte Theodor, der immer wieder Blitze vom Himmel schickte. Mittlerweile hatte er seine Schuhe und Socken ausgezogen, obwohl es Winter war. Allerdings störte ihn das recht wenig. Jedoch musste er sich deswegen nicht mehr bücken, um die Stromkabel mit seinen Händen anzufassen. Er musste nur kurz mit seinem Fuß auf einen der vielen Kabel treten und die Jäger fielen wie Dominosteine.
Ab und an zuckte ein Blitz aus seinen Händen, der zugleich mehrere Jäger grillte.
Ich war viel zu sehr vom Geschehen abgelenkt, dass ich gar nicht bemerkte, wie sich eine kleine Gruppe von Jägern leise zu mir schlich. Der, der mir am nächsten war, hielt ein Messer bereit.
"MIKA, PASS AUF!", ertönte auf einmal der warnende Schrei meiner Mutter. Rhea stürmte in meine Richtung und noch ehe ich mich umgedreht hatte, sank der Jäger, der mir am nächsten stand auf den Boden. Tot. Erschrocken drehte ich mich um. Seite an Seite kämpften meine Mutter und ich gegen die Jägergruppe, die immer größer wurde. Plötzlich brach der Boden unter meinen Füßen und ich konnte mich gerade noch rechtzeitig in Sicherheit bringen, ehe eine kochend heiße Fontaine aus Wasser aus dem Boden schoss. Sie hätte mich in die Luft gerissen und verbrannt, hätte ich nicht aufgepasst.
Meine Mutter wehrte einen Angreifer mit brennenden Pistolenkugeln ab. "Alles gut bei dir?", wollte sie wissen, während sie dem Jäger seine eigene Pistolenkugel durch den Kopf jagte.
"Ja.", meinte ich sarkastisch. "Bis auf einer Stichwunde und zwei Verbrennungen ist alles gut." Meine Mutter schaffte es doch tatsächlich zu lachen. "Wenn's sonst nichts ist." Auf meine Lippen legte sich nun auch ein leichtes Lächeln. Ich sah ihr an, dass sie sich um mich sorgte. Doch da sie sehen konnte, dass mich meine Wunden momentan nicht all zu sehr einschränkten, nahm es ihr einen Teil der Sorge.
Sie selbst hatte einige Verbrennungen an ihren Armen und ihren Händen. Außerdem hatte irgendetwas ihren Kopf getroffen, denn dort waren ihre Haare nass und verklebt. Aber ansonsten schien es ihr gut zu gehen.
Zusammen hielten wir eine weitere Fontaine zurück. Dieses mal kam sie jedoch aus den Händen einer düster dreinblickenden Jägerin. Meine Mutter warf mir kur einen Blick zu, der überrascht an meinen Augen hängen blieb. "Deine Augen sind komplett schwarz.", bemerkte sie erstaunt. "Trotzdem scheinst du mir nicht die Kontrolle verloren zu haben."
"Will hat dir doch von gestern Abend erzählt.", merkte ich an. Rhea nickte und warf drei Jäger mit einer knappen Handbewegung beiseite. "Stimmt.", sagte sie. "Er hat da was erwähnt." Sie schnitt das Thema nicht wieder an. "Bisher schlagen sich alle ganz gut.", sagte sie stattdessen. Ein schlechtes Gefühl überkam mich. Wie konnte ich ihr verschweigen, dass ihre Mutter tot war?
"Alles gut?", fragte mich meine Mutter, die mich aufmerksam betrachtete. "Du siehst so schuldbewusst aus."
Ich schüttelte meinen Kopf. "Es ist nichts. " Obwohl meine Mutter nicht so aussah, als würde sie mir das abkaufen, beließ sie es dabei.
Durch die plötzlich aufkommende Hitze konzentrierten wir uns wieder auf die Feinde, die uns umzingelten. Tänzelnd wich meine Mutter einer Feuersalve aus und tötete ihren Gegner im Handumdrehen. Sie tat all dies mit so einer unglaublichen Leichtigkeit. Als würde sie so etwas ständig machen. Allerdings hatte sie leider auch jahrelange Übung.
Wieder einmal durch die geübten Bewegungen und Vorangehensweisen meiner Mutter abgelenkt, bemerkte ich die Flammen zu spät, die glühend heiß auf mich zuschossen. "Mika, Vorsicht!", rief meine Mutter und warf sich ohne mit der Wimper zu zucken zwischen die Flammen und mich.