Kapitel 22 - Familie ✅

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Langsam öffnete ich meine Augen. Der Schmerz hatte nachgelassen. Dennoch fühlten sich meine Glieder schwer an. Mich empfing helles Licht, weshalb ich erst einmal wieder die Augen zukniff und stöhnte. Neben mir regte sich etwas oder jemand. Wieder öffnete ich langsam und vorsichtig meine Augen. Etwas war seltsam. Wieso kam es mir so vor, als wäre mein Sichtfeld auf einmal kleiner? Probehalber schloss ich beide Augen und öffnete schließlich nur mein rechtes. Dunkel.

Für einen Augenblick hörte mein Herz auf zu schlagen. Egal wie lange ich wartete, die Dunkelheit blieb. Das Licht kehrte nicht zurück. Nein. Nein, nein. Das konnte doch nicht wahr sein! Ich glaubte, nicht mehr atmen zu können. Mein Atem ging stoßweise. Dieses verfluchte Messer! Dieser verfluchte Jäger! Tränen sammelten sich in meinen Augen.

Dann stockte ich. Der Jäger. Wo war er? Lebte er noch? Ruckartig riss ich auch mein anderes, funktionierendes Auge auf. Das war seltsam. Anders als ich es erwartet hatte, befand sich über mir weder ein dichtes Blätterdach, noch eine der hohen Decken des Internats. Ganz offensichtlich befand ich mir irgendwo drinnen. Aber wo?

Schließlich wagte ich es, mich genauer umzusehen. Der Raum war relativ groß, doch hatte er im Gegensatz zu den Räumlichkeiten im Schloss eine normale Größe. Ganz offensichtlich befand ich mich in einem fremden Wohnzimmer und ich lag auf einem dunklen Sofa.

Ich zwang mich zur Ruhe und dazu, meine Atmung zu kontrollieren, um nicht hysterisch aufzulachen. Ein schwerer Kloß hatte sich in meinem Hals gebildet und in meinen Augen brannten die Tränen. Zusammenreißen! Entschlossen musterte ich das Wohnzimmer weiterhin. An der Wand über einer hellen Kommode hingen einige Bilderrahmen und in einer Vase stand ein Straß leuchtend gelber Blumen. Dann hielt ich inne. Ich war gar nicht allein.

Ein wenig entfernt von mir saß eine schmale schwarzhaarige Frau an einem Tisch und beobachtete mich von dort aus. Ihr Blick hatte etwas Kritisches, als suche sie nach etwas, von dem sie nicht wusste, ob sie es gefunden hatte. Sie hatte nicht einmal den Anstand, wegzusehen, als sie bemerkte, dass ich sie beim Starren erwischt hatte.

Stirnrunzelnd erwiderte ich ihren Blick. Wer war sie? Weshalb war ich hier? Und wie kam ich überhaupt hierher? Bewegungslos verharrten wir beide, musterten den anderen und versuchten die fremde Person einzuschätzen. Eine Jägerin war sie nicht. Da war ich mir sicher. Weshalb genau, konnte ich nicht sagen. Außerdem schien sie in mir nach etwas zu suchen, aber was wollte sie überhaupt?

»Mika.«, sagte die Frau schließlich und erhob sich von ihrem Stuhl. Sie war groß und das lange dunkle Haar reichte bis unterhalb ihres Rückens. Sie kannte meinen Namen. Woher?

Als sie näher kam, setzte ich mich auf. Ließ sie keine Sekunde aus den Augen. Auch, wenn ich nicht glaubte, dass es sich bei ihr um eine Jägerin handelte, konnte man niemals vorsichtig genug sein. Vor mir ließ sie sich auf einem Sessel nieder. Erst jetzt fiel mir etwas auf. Irritiert zog ich die Augenbrauen zusammen. Sturmgrau. Ihre Augen waren sturmgrau.

Mit unlesbarer Miene besah sie sich meine rechte Gesichtshälfte. Irgendwelche Gedanken schienen ihr durch den Kopf zu schießen. Gedanken, die ich nicht greifen konnte. Aber da sah ich kein Mitleid. Nein, es war etwas anderes. Eine Frage tauchte in ihr auf. Aber sie stellte sie mir nicht.

Schließlich verschwand die Ausdruckslosigkeit und sie setzte stattdessen ein trauriges Lächeln auf. »Mika, ich -« Sie hielt inne, schien nicht zu wissen, was sie sagen sollte. Sie suchte nach den richtigen Worten und scheiterte. Forschend betrachtete sie mich, ehe sie - resigniert oder genervt, ich konnte es nicht sagen - aufseufzte. »Ich hole die anderen.«, sagte sie und ließ mich auch schon allein. Irritiert blickte ich ihr nach. Nun war ich allein. Allein mit mir selbst.

Und nun, da auch die seltsame Frau fort war, lenkte meine Aufmerksamkeit sich wieder auf mein nutzloses Auge. Wie eine Pistolenkugel riss der aufkommende Schock mich mit sich. Mein Atem wurde schlagartig schneller und hektischer. Verzweifelt schloss und öffnete ich mein rechtes Auge, immer wieder, in der Hoffnung, dass es bloß vorübergehend war. Dass es nicht unwiderruflich kaputt war.

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