Kapitel 77.3 - Die Ruhe vor dem Sturm

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Ein leicht verunsichertes Lächeln erschien auf Hannes Lippen. Sie schien sich sichtlich unwohl zu fühlen und musterte ihre Umgebung vorsichtig. Was tat sie hier? Wer hatte sie hergeholt? Obwohl ich ahnte, dass sie wohl für den Kampf gegen die Jäger hier war, freute ich mich, sie wiederzusehen. Viel zu lange hatten wir keinen Kontakt mehr gehabt. Es kam mir vor wie eine Ewigkeit.

Langsam betrat sie den Saal und ging auf mich zu. Meine anfängliche Freunde legte sich, als ich bemerkte, wie vorsichtig und unsicher sie mir näher kam. Hatte sie etwa Angst vor mir? Meine Laune verdüsterte sich. Das war doch jetzt nicht wahr! Natürlich wusste ich noch, wie verängstigt und entsetzt sie gewesen war, als sie mich mit diesen rot leuchtenden Augen und den spitzen Zähne gesehen hatte. Doch sie war die Frau, die mich großgezogen hatte! Sie war jahrelang meine Mutter gewesen!
Hannes Verunsicherung war für mich ein Schlag ins Gesicht.

"Entschuldigung.", sagte Hanne, als sie schließlich vor mir stand. "Woher kennst du meinen Namen?"

Die Gesichtszüge entgleisten mir.  Wie bitte?

Hanne räusperte sich unwohl. "Na ja. Du musst wohl Mika kennen. Apropos ... Könntest du mir sagen, wo ich sie finde?" Sie trat von einem Fuß auf den anderen und rieb sich mit der Hand über ihren Arm.

Erst dann fiel es mir wieder ein. Hanne wusste überhaupt nicht, dass ich meine Gestalt ändern konnte. Erleichterung überkam mich. Und ich hatte schon gedacht, sie würde mich nicht erkennen. Zwar tat sie das in gewisser Weise wirklich nicht, aber das war jetzt nicht mehr von Bedeutung.

Ich entschied mich, kurz mitzuspielen. Schließlich durfte ich mich hier vor allen anderen sowieso nicht zurück verwandeln.

"Ja. Moment, ich bringe Sie zu ihr.", sagte ich und ging voran. Hanne folgte mir erleichtert. Ob ihre Unsicherheit an dieser fremden Umgebung oder an den vielen Elementary lag, von deren Elementen sie bisher noch nicht einmal gewusst hatte, dass sie existierten, konnte ich nicht sagen.

Schweigend lief Hanne hinter mir her. Gedankenverloren betrachtete sie das Schloss, während ich sie zu meinem Zimmer führte. Hoffentlich war Desdemona nicht immer noch dort. Aber weshalb sollte sie dort bleiben? Schließlich würde sie heute auch noch frühstücken. Allerdings hatte ich sie im Speisesaal nicht gesehen. Na ganz toll. Wo sollte ich sonst mit Hanne sprechen? Also musste ich es riskieren. Außerdem war es ja nicht so, als könnte ich Desdemona nicht bitten, das Zimmer zu verlassen.

Vor der Zimmertür blieb ich stehen. Hanne, die das wohl als unser Ziel ansah, atmete erleichtert aus. "Danke, ... ?", sagte sie langezogen und sah mich fragend an.
"Luna James.", stellte ich mich ihr grinsend vor.
"Danke, Lune.", bedankte sich Hanne und stockte plötzlich, als ihr Blick auf meine Eckzähne fiel.
"Aber eigentlich", sagte ich und nahm langsam wieder meine eigene Gestalt an. "bin ich Mika."
Hanne konnte mich nur vollkommen entgeistert anstarren. Ihre Augen waren ganz groß und sie war überrascht zurückgewichen.
"Meine Güte, Mika ...!", rief Hanne überrumpelt aus.
Ich lächelte. "Hallo, Hanne.", sagte ich. "Schön, dich wiederzusehen."
Ohne ein Wort zu sagen, zog Hanne mich in ihre Arme und drückte mich fest an sich. "Es ist schon viel zu lange her.", murmelte sie. Sie schien mich gar nicht mehr loslassen zu wollen.
"Wieso bist du überhaupt hier?", wollte ich wissen. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass sie von alleine hier her gefunden hatte. Und das auch noch zum richtigen Zeitpunkt. Eigentlich hatten die Schüler ihren Eltern bescheid sagen sollen. Ich jedoch hatte das nicht getan.
Hanne ließ mich wieder los. "Weswegen wohl? Ich möchte helfen!", antwortete sie energisch. "Außerdem habe ich so herausgefunden, wo du bist und kann so Zeit mit dir verbringen!" Sie lächelte. "Und du hast mir deinen Bruder immer noch nicht vorgestellt!"
"Das stimmt.", sagte ich und fuhr mir mit der Hand durch das nun wieder schwarze Haar. "Aber wie hast du erfahren, was los ist und wo ich bin?"
"Ich wurde von einem Mädchen angerufen, das sich 'Desdemona' genannt hat.", erzählte Hanne und zuckte ahnungslos mit ihren Schultern. "Zuerst habe ich gedacht, dass sie mich dazu bringen wollte, einer Sekte beizutreten. - Wer nennt sich auch 'Desdemona'?" Sie lachte ausgelassen. Ich runzelte meine Stirn. Desdemona? Desdemona hatte Hanne angerufen?
"Sie nennt sich nicht nur 'Desdemona', sie heißt wirklich so.", sagte ich. Hanne sah überrascht aus.
"Jedenfalls hat sie mich dann doch überzeugt, ihr weiter zuzuhören und mir erzählt, um was es geht und dass du dich auch hier befindest.", kam Hanne zum Ende. Doch mir fiel noch etwas ein. Skeptisch runzelte ich meine Stirn. "Woher hat Desdemona deine Nummer?"
"Ich stehe im Telefonbuch, Mika.", lachte Hanne.
"Oh.", machte ich. Wie blöd. Wieso bin ich nicht darauf gekommen? Es war doch so simpel.
"Nicht schlimm.", meinte Hanne grinsend. "Das passiert."

Sie sah sich um. "Ich würde wirklich gerne deinen Bruder kennenlernen.", sagte sie enthusiastisch. "Er geht doch bestimmt auch hier zur Schule."
Ich nickte. "Das schon, aber heute ist der Rest unserer Familie auch da." Aufmerksam betrachtete ich Hanne. Ich war gespannt auf ihre Reaktion. Ihr freudiger Gesichtsausdruck verschwand rasch. Sie wurde ganz blass. "Der Rest eurer Familie?", harkte sie leise nach. Ihre Nervosität war nicht zu übersehen. Allein ihr Herzklopfen verriet sie. "Deine Familie?", wiederholte sie und ich nickte. Hanne schluckte.

"Ich kann dich ihnen jetzt vorstellen, wenn du willst.", schlug ich vor. Um Hanne zu beruhigen, fügte ich noch hinzu: "Du brauchst dir gar keine Sorgen zu machen. Sie werden dich ganz sicher mögen!"
Unsicher sah Hanne mich an. "Bist du dir da sicher?"
Zustimmend nickte ich. "Du hast mich aufgezogen. Sie werden dir dankbar sein. Schließlich hätte nicht jeder ein fremdes Baby aufgenommen, das plötzlich vor ihrer Tür liegt."
Hanne atmete tief ein und aus. "Okay.", sagte sie entschlossen. "Ich möchte sie kennenlernen!" Ein Lächeln legte sich auf mein Gesicht. "Gut. Vielleicht hast du sie sogar schon gesehen, als du kurz im Speisesaal warst."
Doch Hanne schüttelte ihren Kopf. "Nein, leider nicht. Ich hatte eigentlich nur nach dir gesucht, aber als du dann meinen Namen gerufen hast, habe ich auf niemand anderen geachtet."
Beinahe schon automatisch begann ich wieder, meine Gestalt zu verändern, was Hanne skeptisch betrachtete. Allerdings sagte sie dazu nichts. Vermutlich konnte sie sich schon denken, weshalb ich das tat. Oder sie würde später nachfragen.

Kurz darauf betraten wir beide den Speisesaal. Den ganzen Weg über, bis hier her, war Hanne so nervös gewesen, dass sie aufgehört hatte zu sprechen. Ich konnte ihr die Sorge ansehen. Und es war nicht nur die Sorge, dass meine Familie sie nicht mögen würde. Ich schätzte, dass sie Angst davor hatte, dass man mich ihr wegnehmen würde und sie mich gar nicht mehr sehen könnte.

Aufgeregt ließ Hanne ihren Blick über jede einzelne Familie gleiten, die zu sehen war und schien zu überlegen, welche davon meine sein könnte. Schließlich legten sich ihre Augen auf eine Personengruppe, die an einem Tisch mit sechs Plätzen saß. Jedoch waren nur fünf davon belegt.

Ich konnte Hanne schlucken sehen. Sie war unglaublich nervös. "Komm.", sagte ich und ging genau auf die fünf Personen zu, die Hanne angestarrt hatte.
"Mika, warte!", rief Hanne mir hinterher, doch ich war schon losgegangen. Schnell beeilte Hanne sich, mir zu folgen.

Am Tisch angelangt, richteten sich alle Blicke auf uns.

"Ich dachte schon, dass du nicht mehr wieder kommst.", sagte Will und grinste mir zu, als sein Blick auf Hann fiel, die hinter mir stand. "Wer ist das?", wollte er wissen.

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