Kapitel 1 - 16 Jahre später ✅

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»So geht das wirklich nicht.« Mit vor der Brust verschränkten Armen saß Miss Collins auf ihrem Stuhl hinter dem Pult. Anklagend lagen ihre hellen Augen auf mir. Kopfschüttelnd löste sie ihre Arme und begann in dem Haufen aus Papier zu wühlen, der sich auf der Tischfläche ausgebreitet hatte. Schweigend starrte ich auf meine Hände. Ich wollte hier nicht sein. Es war mir unangenehm, hier zu sitzen. Es war mir, als säße ich auf der Anklagebank. Auf dem Präsentierteller.

»Um was geht es denn eigentlich?« Fragend sah meine Mutter meine Mathelehrerin an. Man hatte ihr am Telefon nicht gesagt, weshalb sie heute hierher kommen sollte. Glücklicherweise hatte ich gerade erst Schulschluss und musste mich nicht vorher schon mit meiner Mutter auseinandersetzen, die mich sicherlich mit Fragen gelöchert hätte.

Miss Collins räusperte sich, wobei sie einmal ihre rechteckige Brille geraderückte. Es war ihr anzusehen, dass sie sich selbst erst einmal wieder beruhigen musste. Immerhin konnte sie nicht einfach mit derTür ins Haus fallen. Außerdem war auch die Begrüßung schon relativ spärlich ausgefallen. Und wenn meine Mutter etwas überhaupt nicht schätzte, dann war es Unhöflichkeit.

»Natürlich. Entschuldigen Sie.«, sagte Miss Collins und zog zwei Hefte unter dem Papierchaos hervor. Betont ruhig legte die sie vor sich auf den Platz. »Mrs Keaton, es geht um Ihre Tochter Mika.«

Meine Mutter zog nur eine Augenbraue hoch. »Ach, wirklich?«, fragte sie ironisch. Den Rest verkniff sie sich. Sie war keine Frau, die es auf einen Streit auslegte. Normalerweise ging sie dem immer aus dem Weg und versuchte, freundlich zu bleiben. Bei meiner Mathelehrerin tat sich dabei merklich schwer. Kein Wunder, immerhin hatte diese sie einfach so auf der Arbeit angerufen und ohne eine Begründung herbestellt. Zumal Miss Collins nicht viel Wert auf Förmlichkeiten legte.

Miss Collins verkniff sich ein Schnauben und beschränkte sich auf einen genervten Blick. »In der Tat.«, fuhr sie fort. »Wie Sie sicher wissen, hat ihre Tochter letzte Woche in Mathematik eine Klausur geschrieben.« Prüfend sah sie meine Mutter an. Diese nickte bloß und wartete darauf, dass die Lehrerin fortfuhr. Ich wusste schon, was jetzt kommen würde. Und es widerstrebte mir, hier noch eine Sekunde länger zu sitzen. Wie sollte ich denen das nur erklären? Ich wusste doch selbst nicht, wie das möglich war. Und bis vor einigen Jahren war ich noch davon ausgegangen, dass es völlig normal wäre. Weder meine Lehrerin, noch meine Mutter würden mir glauben, wenn ich versuchen würde, das zu erklären. Eher würde ich beim Therapeuten landen. Und darauf konnte ich wirklich verzichten.

»Nun ja.« Miss Collins klopfte mit ihrem Zeigefinger auf die beiden Hefte, die vor ihr lagen. Die Klausuren-Hefte. »Ihre Tochter hat ihre komplette Klausur abgeschrieben.« Ich verzog mein Gesicht als hätte ich in eine Zitrone gebissen. Das stimmte gar nicht. Nicht die ganze Klausur. Schließlich sollte es doch nicht so offensichtlich sein. Ein paar Aufgaben hatte ich natürlich alleine bearbeitet. Dementsprechend falsch waren sie auch.

Nun war es an meiner Mutter, das Gesicht zu verziehen. Ich spürte ihren Blick auf mir, während ich weiterhin verkrampft auf meine Hände starrte. »Stimmt das, Mika?«, wollte sie mit ruhiger Stimme wissen.

»Natürlich stimmt das!«, antwortete Miss Collins an meiner Stelle, wofür sie einen vernichtenden Blick von meiner Mutter erntete. Den ignorierte die Lehrerin jedoch. »Sehen Sie doch nur hier!« Mit einem finsteren Blick schob sie das Heft, auf dem mein Name stand, zu meiner Mutter und schlug sofort die richtige Seite auf. Diese warf nur einen flüchtigen Blick darauf. Zum Vergleich reichte Miss Collins ihr nun auch das zweite Hefte. »Das hier ist die Klausur von Josie Green.«, informierte sie uns. Sie sah mich kurz an, als würde sie erwarten, dass ich sofort alles reumütig zugab. Aber darauf konnte sie lange warten. Nicht, dass ich es nicht bereute, abgeschrieben zu haben. Schon lange hatte ich das nicht mehr getan. Aber letzte Woche hatte ich wirklich Panik gehabt. Mathematik war noch nie mein stärkstes Fach gewesen und als ich die Aufgaben gesehen hatte, wusste ich, dass ich bestenfalls mit einer fünf rechnen konnte. Also hatte ich das getan, was ich nicht erklären konnte.

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