Kapitel 78 - Der Sturm

5.5K 489 55
                                    

Ab jetzt ging alles ganz schnell. Leute sprangen panisch auf, schrien sich hastig irgendetwas zu. Eltern umarmten ihre Kinder und flüsterten ihnen beruhigende Worte ins Ohr. Die eine Hälfte der Leute wuselte unorganisiert umher, die andere versuchte sich wieder zu fassen und bereitete sich seelisch auf den bevorstehenden Kampf vor. Den alles entscheidenden Kampf.

Mein Blick glitt über die Anwesenden. Bis er auf Saimon kleben blieb. Der Junge stand wie betäubt neben seinem großen Bruder. Gerade eben erst war er den Fängen der Jäger entkommen und nun hatten sie ihn eingeholt. Nur, dass es dieses mal womöglich kein Entkommen gab. Doch statt zu weinen, wie ich es erwartet hatte, wirkte Saimon einfach nur leer. Er war mehr eine seelenlose Puppe, ein Roboter, als ein lebendiges Wesen. Es musste grauenhaft für ihn sein. Die Jäger hatten ihm noch nicht einmal Zeit geblieben, sein Trauma zu verarbeiten und die Erlebnisse, die damit verbunden waren.

Auf einmal stand Desdemona vor mir. Ein kupferartiger Geruch stieg mir in die Nase, doch ich zwang mir, ihn zu ignorieren. Ich tat hier niemandem einen Gefallen, wenn ich jetzt über Desdemona herfallen und ihre Leiche blutleer zurücklassen würde. Alle würden nur in Panik verfallen. Falls sie es nicht bereits waren.

Desdemona sah entschlossen aus. Etwas anderes konnte ich ihr nicht ansehen. Da war keine Angst. Keine Zweifel. Nichts. Bloß stahlharte Entschlossenheit. "Ich weiß, dass was ich jetzt sage, willst du nicht hören. Generell willst du vermutlich nichts von mir hören. - Glaub mir. Ich kann das voll und ganz verstehen.", sagte Desdemona. "Aber legen wir das jetzt beiseite. Das hier ist wichtiger als alles andere.  - Du musst das Monster loslassen, Mika." Kaum hatte sie das gesagt, verdunkelte sich mein Gesicht. Ein leises Feuer breitete sich in mir aus. Was sollte das denn? Wie konnte sie nach all noch so etwas zu mir sagen? Desdemona, die mir schon ansah, dass ich ihm am liebsten eine verpassen würde, packte mich sofort fest an den Schultern. Ihr Griff war stählern und ihr war egal, wie tief sich ihre Finger in mein Fleisch bohrten. Wie sie schon sagte: Das hier war wichtiger als alles andere. "Lass mich zu Ende reden, Mika!", sagte Desdemona mit einem Unterton in der Stimme, der mich schweigen ließ. "Du bist die Einzige von uns, der es bereits gelungen ist, ihr Monster zu kontrollieren. Keiner von uns kann das. Die meisten waren noch nicht einmal in einer solchen Situation." Als sie sichergehen konnte, dass ich nicht auf sie losgehen würde, ließ sie mich los und trat einen Schritt zurück. Sie sah mich eindringlich an. "Also hör einmal auf, dich selbst zu bemitleiden! Geh da raus und mach, was du am besten kannst! Auch, wenn du das vermutlich nicht zugeben willst. Aber ab und an kannst du tatsächlich ein Monster sein. Lass es raus! Mach sie fertig!"

Sofort machte ich mich bereit für den Protest. Von wegen, das war es, was ich am Besten konnte! "Ich töte niemanden, Desdemona. Zumindest nicht mehr.", setzte ich dagegen. "Und hör endlich auf, mich ein Monster zu nennen! Das Thema hatten wir schon!"

Langsam breitete sich die Wut in Desdemona auf. "Mensch, verstehst du denn gar nichts?!", rief sie fassungslos und raufte sich ihre Haare. Ihre Stimme war eine Mischung aus Frustration und Zorn. "Hier kommt keiner von uns lebend raus, wenn wir nicht töten! Du kannst nicht jeden einzelnen Jäger gefangen nehmen, Mika! Tut mir leid, dass du seither ein Trauma hast, das dir verbietet, die zu töten, die dich noch viel dringender töten wollen! So ist das nun einmal! Töten, oder getötet werden! Und heute hast du sogar eine Berechtigung dazu! Glaubst du, auch nur einer von denen wird sich zurückhalten?" Sie deutete auf die ganzen Familien. "Sie werden es tun. Glaub mir. Vor allem wenn es um ihre Familien und Freunde geht. Bist du die Einzige, die das nicht verstanden hat? Es werden Leute sterben! Auf unserer Seite! Je mehr Jäger wir auslöschen, desto mehr unserer Leute werden leben!" Prüfend betrachtete sie mich. Sie würde nicht nachgeben. Sie würde nicht zulassen, dass ich mich weigerte.  "Du hast jetzt keine Zeit, um das mit deinem Gewissen zu vereinbaren. Du hast vielleicht bald überhaupt keine Zeit mehr. Tu es einfach! Du würdest uns allen einen Gefallen tun." Desdemona warf einen Blick zur Tür. Die Zeit wurde knapp. Die Jäger würden bald im Internat einfallen. "Und ja! Du bist ein Monster! Das sind wir alle. Komm endlich damit klar." Sie sah mich noch einmal kurz an, dann wandte sie sich ab und ging mit zielstrebigen, schnellen Schritten zur Tür. Desdemona blieb noch einmal stehen, drehte sich um und betrachtete die aufgebrachte Menge.

"VERDAMMT!", brüllte sie so urplötzlich, dass alle erschrocken verstummten und sich zu ihr drehten. "WOLLT IHR EWIG SO WEITER MACHEN? DAFÜR HABT IHR KEINE ZEIT! JETZT REIßT EUCH ZUSAMMEN UND KÄMPFT!" Ohne noch einen Blick zurück zu werfen, verschmolz Desdemona mit den Schatten und verschwand. Sie würde auch alleine kämpfen, wenn es keiner wagte, ihr zu folgen.
Für den Bruchteil einer Sekunde, bewegte sich niemand. Doch dann war es meine Mutter, die sich erhob. Entschlossen und vollkommen bereit sah sie auf die Menge. "Na los!", rief sie. "Worauf wartet ihr noch? Die Jäger werden nicht zögern! Lasst das Mädchen nicht alleine in ihr Verderben ziehen. Obwohl sie dadurch mehr Mut zeigt, als ihr alle zusammen!" Ihre Miene war eisern. Sie wirkte nun mehr wie eine Kriegerin, die nichts unversucht lassen würde. Rhea warf ihrer Familie noch einen auffordernden Blick zu und folgte Desdemona.

"Wieso überrascht mich das nicht?", murmelte Arthur, legte seine dampfende Tasse beiseite und stand auf. Cecile, mein Vater und Will taten es ihm nach.
Will ließ seine Knöcheln knacken. "Dann wollen wir mal.", knurrte er. Er sah vollkommen finster aus. So finster, dass die Jäger vermutlich allein bei seinem Anblick das Weite suchen würden. Bereits jetzt schon begann er seine Energie zu sammeln, um sie sofort auf den nächst besten Jäger zu schleudern, bevor wir ihn überhaupt sehen würden.

Zu viert zogen sie los. Hanne und ich waren noch etwas unsicher. So wenig mir Desdemonas Worte auch gefielen. - Sie hatte recht. Und ich möge verdammt sein, wenn ich nicht alles daran setzten würde, die zu retten, die mir nahe standen. Auch wenn das bedeutete, dass ich das Monster heraus lassen musste. Dieses mal war es okay. Es war sogar notwendig. Ich schob Manous Worte beiseite und verbarrikadierte sie in den Tiefen meines Kopfes. Ich würde nicht der Untergang sein. Ich würde verdammt noch mal alles daran setzen, alle zu retten. Auch, wenn das womöglich unmöglich war und ich mir ein viel zu hohes Ziel setzte.

Ich folgte den anderen. Hanne, die mich nicht allein lassen wollte - Oder sie wollte selbst nicht allein zurück gelassen werden - hastete mir hinterher. Wie stark ihre Fähigkeiten waren, konnte ich nicht sagen, doch ich hoffte, dass sie zumindest sich selbst damit schützen konnte.

Kaum hatten wir den Saal verlassen, konnte ich vernehmen, wie die anderen sich nun auch daran machten, loszuzuziehen. Jeder wusste, dass es vielleicht das letzte war, was wir taten. Doch wir würden nicht kampflos untergehen. Und nach Möglichkeit würden wir die Jäger mit in den Untergang reißen.

Kein Wort war zu vernehmen. Bloß das Geräusch vieler hunderter Schritte hallte durch das alte Gemäuer. Einige Meter vor mir, stieß Desdemona die große doppelseitige Tür auf, die hinaus auf das umliegende Grundstück des Schlosses führte. Mit einem lauten Krachen flogen die Türen gegen die Mauern und offenbarten uns eine Armee. Eine Armee aus unzähligen Jägern, die bereit waren, alles zu geben, damit sie jeden Einzelnen von uns vernichteten.

Sie strömten aus dem Wald, lösten sich aus seinen Schatten. Traten hervor wie aus dem Nichts. Manche hielten glänzende Waffen in den Händen, die das Sonnenlicht reflektierten wie Spiegel. Andere waren erfüllt von ihrer Macht und verzichteten auf zusätzliche Waffen.

Die ganze Rasenfläche verschwand unter den unzähligen Körpern, was das alles hier nur noch bedrohlicher erscheinen ließ. Wie Ameisen kamen sie näher, strömten aus allen möglichen Richtungen. Jung und alt, dick und dünn. Sie alle waren da. Und sie würden keine Gnade walten lassen. Sie waren hier um zu kämpfen. Um zu morden. Um uns endgültig auszulöschen.

Ich spürte, wie meine Augen zu glühen begannen. Jetzt musste ich es nur noch schaffen, mein Monster zu entfesseln. Die Gestalt von Lune James fiel. Macht durchströmte meinen gesamten Körper. Ich war bereit. Und die Jäger würden bezahlen.

ObscuraWo Geschichten leben. Entdecke jetzt