Kapitel 64.2 - Sechs kleine Schafe

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Will und ich schwiegen. Genervt verdrehte Nawin seine Augen. "Jetzt kommt schon. So schwer kann das doch jetzt nicht sein!", sagte er.
"Oh, du hast keine Ahnung!", brummte mein Bruder.
"Könnte uns einer bitte aus dieser Starre befreien?", rief Desdemona schlecht gelaunt. "Ich habe jetzt wirklich keine Lust darauf, noch länger als eine Sekunde hier so herum zu stehen!" Will erbarmte sich ihrer und schenkte uns allen unsere Bewegungsfreiheit wieder.
Stöhnend streckte ich mich. Die anderen drei taten es mir gleich. Zufrieden seufzend ließ Desdemona ihren Rücken knacken.
"Igitt, hör auf damit!", beschwerte sich Theodor. Daraufhin ließ Desdemona ihren Rücken grinsend noch einmal knacken. Theodor wandte sich von ihr ab.
Nawin klatschte einmal in die Hände. "Hallo! Nimmt mich hier überhaupt jemand ernst?"
"Nein!", kam es prompt von Desdemona und Nawin seufzte. "Dass das ausgerechnet von dir kommt, war zu erwarten.", sagte er und widmete sich wieder Will und mir. "So. Und jetzt versucht es wenigstens zu erklären!"
Will rieb sich nachdenklich seine Schläfe. Da er keine Anstalten machte irgendetwas zu sagen, nahm ich es in die Hand. Vermutlich war das sein Plan. Vielleicht aber auch nicht. Ohne groß irgendetwas zu sagen ließ ich meine derzeitige Gestalt fallen und ich kam zum Vorschein. Das Kinn von Theodor und Nawin klappte nach unten. "Ach du Scheiße!", rief Theodor erschrocken aus. "Was du nicht sagst ...", murmelte Nawin und starrte mich an. "Bist du nicht die, die ein oder zwei Jäger getötet hat?"
Widerstrebend nickte ich. Zwei Jäger und eine Freundin traf es wohl eher. Doch das musste Nawin ja nicht wissen. Und Theodor auch nicht. "Du bist Mika.", stellte Theodor fest. "Das Mädchen, vor dem sie in den Nachrichten warnen. Mika Lunar-Eclipse."
Erneut nickte ich.
"Gut, wenn das nun geklärt ist.", sagte Will. "Dann fangen wir da an, wo ihr vier aufgehört habt."
"Du willst mitkommen?", fragte ich, obwohl es eigentlich keine Überraschung war.
Mein Bruder verschränkte seine Arme vor seiner Brust. "Natürlich! Was denkst du denn?", sagte er. "Wenn du schon unbedingt etwas Dummes machen willst, lasse ich dich ganz sicher nicht allein!" Ich verkniff mit meinen Kommentar. Es würde sowieso nur im Streit enden.
"Na endlich.", stöhnte Ariadne sichtlich genervt. "Ich dachte schon, wir würden gar nicht mehr dazu kommen."
"Halt doch die Klappe!", zischte Nawin und begann auf den Wald zu zusteuern. Wir folgten ihm. Ariadne hatte Nawin ganz schnell wieder überholt und führte uns. Sie war schließlich diejenige, die wusste, wo es lang ging. Auch wenn Nawin das nicht gefiel. Ändern konnte ich es nicht.

Der Wald um uns herum war still. Kein Wind rauschte in den Baumwipfeln und brachte die Äste zum Tanzen. Die Bäume standen bewegungslos. Sie waren bloß noch knorrige Schemen, die über uns hinaus ragten wie Skelette. Allein der schrille Schrei einer Eule zerriss die angespannte Stille des Waldes. Liam zuckte zusammen und gab sich kurz darauf so, als wäre nichts gewesen. Lässig spazierte er weiter. Doch mir konnte er nichts vor machen. Und den anderen auch nicht. Allerdings sagte niemand etwas. Uns ging es nicht gerade besser.
Wir waren nicht mehr als eine verängstige Herde Schafe. Blieben eng beisammen und unsere Augen standen niemals still. Wir wussten, dass irgendwo hier der Feind lauerte. Bereit uns alle zu vernichten.
"Hast du das gehört?", wisperte Desdemona und trat ein wenig näher zu Liam. Mir entging Nawins missbilligender Blick dabei nicht. "Das war nur ein Zweig.", beruhigte Liam sie.
Ich fuhr mir nervös durch das nun wieder blonde Haar. Was, wenn etwas schief ging? Wenn wir nicht stark genug waren? Wenn tatsächlich jemand starb? Darüber sollte ich eigentlich lieber nicht nachdenken. Wir würden das schon schaffen. Irgendwie.
Scheiße. Frustriert stellte ich fest, dass unser ach so toller "Plan" viele Lücken aufwies. Hatten wir überhaupt eine Ahnung von dem, was wir vorhatten? Im Moment kam es mir eher wie eine Improvisationsaktion vor. Verdammt, wir hatten uns keine richtigen Gedanken gemacht! Wie sollte das denn jetzt bitte ablaufen? Es wäre schon mehr als Glück, wenn alles reibungslos verlaufen würde! Und jetzt waren auch noch Will und Nawin dabei, was wir überhaupt nicht mit eingeplant hatten. Aber unser Plan war ja sowieso nicht wirklich planmäßig. Die ein oder andere Abweichung könnte man also durchaus verkraften.

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