Kapitel 34.2 - Von Wut und Schuldgefühlen

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Will

Sie war fort. Einfach fort. Ohne irgendein Wort, ohne einen Zettel zu hinterlassen. Einfach so hinaus und verschwunden im Nebel. Ohne irgendein Anzeichen. Wir hatten uns nicht darauf vorbereiten können, nichts hat sie getan. Weshalb war sie gegangen? Was brachte ihr das? Wir hatten sie doch gerade erst wieder. Wir hätten ihr helfen können. Deshalb hatte sie doch mit Dad trainiert.

Besonders Mum hatte ihr plötzliches Verschwinden schwer getroffen. Seither saß sie nur noch deprimiert auf dem Sofa und machte sich Vorwürfe, da sie glaubte, etwas falsch gemacht zu haben. Sie meinte, sie hätte Mika niemals abgeben sollen, hätte mehr Zeit mit ihr verbringen sollen und in der Zeit, die sie da war, hätte sie mehr mit ihr unternehmen und sie mehr kennenlernen und verstehen lernen sollen.

Doch Mum hätte Mika nicht aufhalten können. Es war von Anfang an hatte sie geplant, zu verschwinden.

Grandma war schweigsamer und Grandpa rührte seine Zeitung nicht mehr an. Er verbrachte seine Zeit mit Grandma, obwohl sie sehr schweigsam war. Aber vielleicht irrte ich mich auch und er genoss ihr Schweigen einfach. Bei ihm und Grandma konnte man nie wissen.

Dad war ebenfalls sehr schweigsam, doch ansonsten ging er allen Tätigkeiten nach, die er immer tat.

Weshalb war sie gegangen? Glaubte sie vielleicht, dass es besser wäre? Dass sie uns zu beschützen hatte? Doch vor was? Etwa vor ihr? Ja, ich gab es zu. Sie war mächtig. Vermutlich wusste sie nicht einmal, wie mächtig. Doch glaubte sie deshalb, dass wir nicht damit klarkämen?

Ich war ihr großer Bruder. Es war meine Pflicht, sie zu beschützen. Und nicht nur meine Pflicht. Ich würde es so oder so tun. Sie war meine kleine Schwester. Meine kleine Schwester, die ich nicht rechtzeitig genug gefunden hatte, weshalb sie Damon zum Opfer fiel und diese Narbe bekam.

Ich war nicht da gewesen, als sie von den Jägern angegriffen wurde.

Ich hatte sie nicht weggezogen, als sie Claire getötet hatte. Und jetzt hatte sie Schuldgefühle.

Ich war einfach nur enttäuscht. Bedeuteten wir ihr denn nicht genug, sodass sie blieb? Oder dachte sie, es sei das Beste für uns? Nein, nein war es nicht! Es war nicht das Beste!

Es war gefährlich da draußen. Die Jäger waren scheinbar überall, hatten überall ihre Ohren. Man konnte niemanden trauen. Und sie hatten es besonders auf Mika abgesehen. Weshalb auch immer. Gut, sie war mächtig und somit eine Gefahr für die Jäger, aber bitte, Mika war doch gerade mal erst ... Moment mal. Sie war letztens siebzehn geworden. Noch nicht einen einzigen Geburtstag hatten wir mit ihr zusammen gefeiert. Der nächste würde sein, wenn sie achtzehn werden würde. Volljährig. Erschreckend. Wie schnell die Zeit doch verging.

Der Tag kam, an dem ich wieder in die Schule ging. Irgendwann hatte sich meine Enttäuschung in Wut verwandelt. Wie genau das passiert ist, konnte ich nicht sagen. Es war einfach so gewesen. Schon als ich hörte, dass sie verschwunden sei, hatte ich diese leise Wut gespürt. Sie hatte sich auf leisen Sohlen angeschlichen und mich überwältigt, hatte mich überfallen, als ich nicht damit gerechnet hatte. Aus all den negativen Gedanken war sie entstanden und vielleicht sogar auch aus ein paar der Guten.

Es hatte damit begonnen, dass ich schnell gereizt war und mich gegenüber den anderen verschloss, die mich einfach nur noch nervten, wie sie über ihre Geschwister und Familien redeten, wie sie eine glückliche Familie waren ohne jegliche Probleme und Komplikationen, die das Ganze noch einmal schwerer machten. Das war doch nicht fair. Aber was war bitte je schon einmal fair gewesen? Genau. Nichts.

Kälte. Das beschrieb mein Innerstes im Moment ziemlich genau. Ich fühlte mich kalt. Wir hatten schon so viel Pech in der Familie gehabt. Die Eltern meines Vaters starben, ich hatte meinen Onkel vor meinen Augen sterben sehen, während meine Tante flehte, die Jäger mögen ihn doch am Leben lassen. Beide starben einen qualvollen Tod. Die Jäger hatten kein Erbarmen.

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