Kapitel 76.2 - Beste Freunde

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Die Reaktionen der Leute, von denen ich geglaubt hatte, die meine Freunde nennen zu können, zeigten mir, wie wenig sie alle mir eigentlich vertrauten. Keiner von ihnen glaubte wirklich an mich. Sie sahen in mir die Gefahr. Den Todbringer.

Vor allem Will enttäuschte mich. Von ihm hatte ich gehofft, dass er und ich zumindest durch unsere Familie irgendwie verbunden wären.

Und von Desdemona brauchte ich gar nicht erst anzufangen.

Mein Körper bebte noch immer. Es war unglaublich schwer, gegen diesen inneren Drang anzukämpfen. Wollte ich das weiterhin? Würde ich aufgeben, wäre es genau das, was die anderen von mir erwarteten. Ich wollte auf keinen Fall ihren Erwartungen entsprechen. Auch wenn ich es nicht für sie tat. Ich wollte es für mich tun. Ich wollte mir selbst zeigen, dass ich es konnte. Dass ich nicht so schwach war, wie die Leute dachten. Dass ich für mich selbst entscheiden konnte, wer ich sein wollte.
Vermutlich würde ich mich nach dem Kampf mit den Jägern aufmachen und verschwinden. Abstand nehmen. Irgendwo, wo mich keiner finden konnte. Es war vielleicht eine sehr spontane und lächerliche Entscheidung, doch es wäre vermutlich besser so. Für die anderen, wie auch für mich. Jeder von uns musste sich selbst erst einmal über einiges klar werden.

Dennoch war mir durchaus bewusst, dass ich all diese Gefühle, all diese Wut, diese Verzweiflung und was sonst noch alles in mir brodelte, irgendwohin mussten. Und ich konnte sie nicht weiter in mich hineinfressen. Allerdings konnte ich sie auch nicht auf die Weise herauslassen, wie mein böses Inneres es wollte. Es würde beides nicht gut gehen.
Und so schrie ich.
Schrie laut.
Schrie schrill.
Schrie so unvorstellbar wütend. Verzweifelt. Traurig. Enttäuscht. Und was alles noch dazu kam.
Aber eines war sicher: Es war unvorstellbar erleichternd.
Schrie lange.

Meine Hände hatten sich zu Fäusten geballt. Mein ganzer Körper war zugleich so locker und doch so angespannt. Doch auf Dauer reichte es nicht, einfach nur zu schreien. Alles musste raus. Die Worte mussten raus. So viele Worte, die endlich ausgesprochen werden mussten. Und dennoch wusste ich nicht, was ich sagen wollte.

"Ihr alle!", schrie ich. "Ihr habt doch keine Ahnung! Ihr habt überhaupt kein Verständnis! Ihr glaubt, ihr wisst alles! Doch das tut ihr nicht! Überhaupt nicht! Keiner von euch kann sich vorstellen, wie es ist, ich zu sein! Jeder von euch urteilt über mich, ohne überhaupt zu wissen, was er da von sich gibt! Selbst die, von denen ich es am wenigsten erwartet hätte! Keiner von euch glaubt an mich! Keiner von euch vertraut mir! Dabei wollt ihr mich doch nur scheitern sehen! Und fast hättet ihr es auch geschafft!" Ich sah jeden einzelnen von ihnen mit meinen vollkommen tiefschwarzen Augen an. Nun sprach ich ruhiger. "Ich weiß selbst, dass ich oft gescheitert bin. Ich weiß selbst, dass ich nicht immer richtig gehandelt habe. Genauso weiß ich, dass ich wenigstens versuche, besser zu sein. Aber das interessiert keinen von euch. Ihr seht nur mein Scheitern. Und dabei bleibt es." Mein Tränenfluss war ausgetrocknet. "Meine Bemühungen es richtig zu machen bleiben von euch vollkommen unbemerkt. Ihr seht nur, was ihr sehen wollt. Ihr seht in mir das Monster, das alles zerstören könnte. Doch anstatt zu mir zu halten, mir zu helfen, wendet ihr euch ab und bangt um euer Leben." Ich schüttelte leicht ungläubig meinen Kopf. "Dass mir das alles nicht sofort aufgefallen ist. Ich hätte so oft aufgeben können. Doch ich habe es nicht. Und dennoch scheine ich alles falsch zu machen."

Will wollte etwas sagen, doch ich stoppte ihn, indem ich meine Hand hob. "Sag nichts."
Schweigend ging ich auf ihn zu. Alle beobachteten jede meiner Bewegungen. Damon war der einzige, der relativ entspannt war. Er folgte mir mit seinen Augen. Vor Will blieb ich stehen. Lange sah ich ihn an. Plötzlich fletschte ich meine Zähne und fauchte in Wills Richtung. Das traf ihn völlig unvorbereitet, denn seine Augen weiteten sich entsetzt. Die Angst war ihm deutlich anzusehen, als er ruckartig zurückwich. "Du bist nicht besser als die anderen.", sagte ich. Obwohl er sehr selten Kritik mir gegenüber äußerte, dachte er doch wie die ganzen anderen. Mein eigener Bruder.

Ohne auch nur noch einen einzigen von ihnen anzusehen, ging ich an ihnen vorbei. Meine Augen waren noch immer tiefschwarz. Keiner von ihnen rührte sich. Keiner von ihnen wagte es. Es war nur ein weiterer Beweis für meine Worte. Und endlich waren sie gesagt. Eine kleine Last war von meinen Schultern gefallen.

Frieden. Für den Moment hatte ich meinen Frieden. Und es war wunderbar.

So frei hatte ich mich schon lange nicht mehr gefühlt. Auch, wenn es nur von kurzer Dauer sein würde. Ich fühlte mich gut. Zwar auch sehr einsam, aber gut. In diesem Augenblick kam mir gar nichts mehr unmöglich vor. Ich war so stark, dass ich sogar diesen grausamen Urinstinkt besiegt hatte, von dem Manou sagte, dass niemand ihn kontrollieren könnte. So lange dieses unbeschreiblich gute Gefühl noch anhielt, würde ich Saimon einen Besuch abstatten. Der befand sich sicherlich im Büro der Direktorin.

Schnell war ich dort angekommen und stieß die Tür auf. Wie ich sofort bemerkte, hatte ich Recht behalten. Saimon lag zwar nicht mehr bewusstlos, aber benommen, auf dem leergeräumten Tisch von Lady Darkstone. Als diese mich sah, wich sie erschrocken zurück. Natürlich hatte auch sie mittlerweile die wahre Geschichte der Ghost und Schatten gehört. Und sie wusste genau, was diese Augen normalerweise bedeuteten. Als sie bemerkte, weswegen ich hier war, stellte sie sich schützend vor Saimon. Angriffsbereit sammelten sich die Schatten um ihre Füße.

"Gehen Sie beiseite.", befahl ich. Aber natürlich hörte Lady Darkstone nicht.
"Mika, ich warne dich!", sagte sie mit einer erstaunlich festen Stimme. "Komm auch nur einen Schritt näher, und ich werde dich aufhalten müssen."
Da ich genau wusste, dass es nichts bringen würde, wenn ich versuchten würde, ihr zu erklären, was ich vorhatte, machte ich eine knappe Handbewegung, durch die Cassandra Darkstone zur Seite geworfen wurde. Da mir nicht viel Zeit blieb, bis sie sich wieder erheben würde, eilte ich auf den reglosen Saimon zu und platzierte meine Hände rechts und links an seinem Kopf. Rapide tauchte ich in seinen Kopf ein. Sogleich wurde mir klar, dass all seine alten Erinnerungen blockiert worden waren. Und nur diese einen Worte, die er immer und immer wieder wiederholt hatte, schwebten an der Oberfläche. Ebenso wie der Befehl, dass er jeden töten sollte, der versuchte, ihn von dem Ort seiner Gefangenschaft, wegzuschaffen.

Da ich gerade nur so vor Kraft strotzte, war es für mich kein Problem, die Mauer, die Saimon von seinen eigenen Gedanken und Erinnerungen trennte, einzureißen. Kaum hatte ich das getan, wurde die Tür aufgeworfen. Keuchend standen Nawin und Desdemona, bereit anzugreifen, im Türrahmen. Als Nawin sah, dass meine Hände an Saimons Kopf lagen, erhob er sofort die Hand gegen mich. Er wollte mich von seinem kleinen Bruder weg schleudern, doch ich blockierte den Angriff mit meiner eigenen Hand.
"Lass ihn los!", zischte Nawin. "Geh von ihm weg!" Meine ganzen Worte schienen umsonst gewesen zu sein. Er verstand nicht. Er verstand gar nichts.
Wortlos, da Worte rein gar nichts ändern würden, entfernte ich mich von Saimon. Von Desdemonas Schatten wurde ich aus dem Raum gerissen. Bevor die Tür hinter mir krachend zuschlug, vernahm ich noch, wie Saimon sich ächzend aufsetzte und verharrte.

"Nawin?", erklang sein schwaches Stimmchen verwirrt. Ungläubig starrte Nawin seinen Bruder an, ehe er ihn leise schluchzend in seine Arme zog. Dann war die Tür zu. Gern geschehen.

Mein vorheriges Hochgefühl war verflogen. Es hatte der Trauer Platz gemacht. Stumm ging ich mit zielstrebigen Schritten zu meinem Zimmer. Wenn Desdemona damit nicht klarkommen sollte, musste sie sich für diese Nacht ein anderes Zimmer suchen.

Nun bemerkte ich auch die Müdigkeit, die ich zuvor überhaupt nicht wahrgenommen hatte. Vollkommen erschöpft stieß ich die Tür auf und ließ mich ohne sie zu schließen und ohne mich umzuziehen, in mein Bett fallen. Sehnsüchtig erwartete ich das wohltuende Gefühl, das einem das Bett schenkte, wenn man sich hineinlegte.

Ich war schon beinahe weggedämmert, als Desdemona vorsichtig unser Zimmer betrat. Ihr Blick fiel sofort auf mein belegtes Bett. Sie blieb stehen und ich spürte, dass sie eigentlich ziemlich viel zu sagen hatte. Doch ihr Mut verließ sie und sie wandte sich ihrem eigenen Bett zu.

"Es tut mir leid.", sagte sie leise, als sie sich hingelegt hatte. Und damit war alles gesagt, was gesagt werden konnte.

ObscuraWhere stories live. Discover now