Kapitel 2.2 - Der Angriff ✅

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Ein herzzerreißendes Schluchzen durchbrach die Stille der unendlichen Leere. »Oh, Mika!«, hörte ich wie in Watte gepackt eine Stimme. Erneut ein Schluchzen. Mom? Wieso war sie hier? Sie sollte sich doch gar nicht in der Dunkelheit finden. Angst packte mich. Hielt mich fest umklammert. Hatte mein Peiniger sie gefunden? Hatte er ihr das Selbe angetan wie mir?

»Ach, Mika. Was machst du bloß?« Sie weinte, während ich in mich hinein horchte. Nein. Ich glaubte, ich war gar nicht tot. Meine Mutter befand sich gar nicht bei mir im Nichts. Sie war außerhalb. Und das bedeutete, dass ich zu ihr konnte. Ich konnte aufwachen. Vielleicht war das alles auch nur ein böser Traum. Aber wieso sollte sie dann weinen?

Vorsichtig tastete ich mich voran. Kämpfte mit der Dunkelheit. Langsam öffnete ich meine schweren Augen. Es kostete mich einiges an Kraft. Ich war vollkommen ausgelaugt. Dennoch spürte ich keinen Schmerz. Da war nichts mehr. Hatte man mir etwas zur Betäubung gegeben?

Wo war ich? Ich war weder im Wald, noch zu Hause. Achtsam sah mich um. Versuchte, keine zu schnellen Bewegungen zu machen. Die Wände und die Decke waren weiß. Ich befand mich in einem weißen Bett und hörte ein regelmäßiges, leises Piepsen. Ein Krankenhaus? Hatte man mich gefunden? Wie? Und hatte man meinen Angreifer fassen können? Doch ich war noch immer viel zu benommen, um meine Gedankengänge weiter ausführen zu können. Außerdem war es zu anstrengend. Tief atmete ich ein. Kein Schmerz.

Auf einmal beugte sich meine Mutter über mich. Sie hatte bemerkt, dass ich endlich wach war. Sie konnte gar nicht wissen, wie erleichtert ich war, sie zu sehen! Allein ihr Anblick brachte mich dazu, ruhiger zu werden. Alles war gut. Sie war hier. Und ich auch. »Schatz, wie geht's dir?«, fragte sie besorgt. Diese Frage hätte sie sich wirklich sparen können.

»Gut.«, brachte ich ein heiseres Krächzen heraus, obwohl ich nicht so ganz wusste, ob das auch stimmte. Nachdem, was passiert war, ging es mir ganz sicher nicht gut. Aber jetzt, da ich mich im Krankenhaus befand, fühlte ich mich deutlich besser. Dabei reichte allein das Wissen aus, dass dieses schreckliche Ereignis hinter mir lag.

»Ein Wanderer hat dich im Wald gefunden. Du hast ein paar Verbrennungen.«, sagte Hanne leise und wirkte ziemlich besorgt. In ihren himmelblauen Augen schimmerten die Tränen. »Mika, was ist passiert?« Mit einem Taschentuch trocknete sie sich ihr vom Weinen nasses Gesicht. »Oh, ich hätte dich nicht einfach gehen lassen sollen! Dann wäre nichts passiert!« Sie schluchzte auf. »Es tut mir so leid!«

Leicht schüttelte ich meinen Kopf. »Es ist nicht deine Schuld.«, sagte ich bedrückt. Sondern meine. Immerhin war ich es, die einfach in den Wald gelaufen war, anstatt einfach nach Hause zu gehen.

Schmerzlich erschien wieder das Bild des schwarzäugigen Jungen vor meinem inneren Augen. Was auch immer das für ein Psychopath war, ich hoffte, man hatte ihn gefunden und eingesperrt. So jemand sollte nicht frei herum laufen. Zumal er, weshalb auch immer, Feuer heraufbeschwören konnte. Das würde mir niemand glauben.

Aber was wäre, wenn er nicht geschnappt worden war? Wenn er erfuhr, dass ich noch am Leben war? Ein kalter Schauer ließ mich erzittern. Augenblicklich schien mein Herz auszusetzen. Nein, bitte nicht!

»Was hast du?«, wollte Hanne wissen, die meinen Stimmungswandel bemerkt hatte. Sofort griff sie nach meinen Händen und drückte sie sanft. Eindringlich sah sie mich an. Ahnte sie etwas? Nein, unmöglich. So etwas konnte man nicht erahnen. So etwas konnte nämlich eigentlich nicht einmal passieren. Eigentlich.

Plötzlich ging die Tür auf und ein Mann kam herein. Weißer Kittel, Zahnpasterlächeln, freundliche Miene. Bestimmt ein Arzt. Das Namensschild an seiner Brust wies ihn als 'Doktor Wilson' aus. Er lächelte mich an, als er sah, dass ich wach war.
»Wie schön, du bist wach.«, sagte Doktor Wilson und stand nun vor meinem Bett. Kurz schwenkte sein Blick über mein Gesicht. Besonders über die rechte Seite. »Also. Du hast ein paar Verbrennungen und Prellungen erlitten. Aber sie werden verheilen. Bis auf die Verbrennung, die sich über dein rechtes Auge gezogen hat. Dort wird eine schmale Brandnarbe übrig bleiben, aber die sollte recht unauffällig sein.« Er schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln. »Deine Wunden heilen überraschend gut. Du hast wirklich Glück. Trotzdem lassen wir dich heute noch mal zur Beobachtung hier. Dann kannst du nach Hause gehen.«

Irritiert starrte ich den Arzt an. Wie bitte? Er konnte mir doch nicht wirklich weismachen wollen, dass meine Verletzungen halb so wild waren und gut verheilen würden? Wie lange war ich bewusstlos gewesen? »Aber du muss dann jeden Tag eine Brandsalbe auftragen, die ich deiner Mutter mitgeben werde. - Also dann, bis Morgen, Mika.« Wilson wandte sich zur Tür, stockte und drehte sich wieder zu mir. »Du hast wirklich Glück gehabt. Außerdem scheinen deine Wunden nicht nur unglaublich gut, sondern auch unglaublich schnell zu verheilen.« Er bedachte mich noch kurz mit einem forschenden Blich und verschwand wieder. Verwirrt sah ich dem Arzt hinterher. Wie konnte das sein? War das der Grund, weshalb ich keine Schmerzen mehr verspürte? Hatte der Junge etwas mit mir gemacht?

Meine Mutter schenkte dem Doktor keine Beachtung und wandte sich an mich. »Mika! Erzähl, was genau passiert ist!«, bat sie mich eindringlich. Sie wirkte ziemlich durcheinander. Wer bitte griff auch ein sechzehnjähriges Mädchen an? So gerne ich mir auch alles von der Seele reden wollte, ich konnte nicht. Zerknirscht blickte ich an die Decke. Sie war weiß. Sie würde mir nicht glauben. Wieso sollte sie auch? Das, was geschehen war, war viel zu unglaublich. Nicht einmal ich glaubte mir selbst. Alles in mir schrie danach, dass es nur ein Traum gewesen sein konnte.

»Ich weiß es nicht mehr.«, log ich deshalb. Vielleicht log ich nicht einmal? »Kannst du mich bitte schlafen lassen? Ich fühle mich noch etwas angeschlagen.« Tatsächlich fehlte mir jede Energie. Außerdem musste ich das Geschehene erst einmal selbst verarbeiten. »Aber natürlich.«, sagte sie und lächelte mir müde entgegen. »Es hat keine Eile. Lass dir Zeit. Morgen bin ich wieder da.« Sie drückte mir noch einen sanften Abschiedskuss auf die Stirn und bewegte sich zur Tür. Kurz blieb sie noch stehen, drehte sich zu mir um und betrachtete mich. »Es wird alles wieder gut, Mika.« Dann verließ sie den Raum und zog leise die Tür hinter sich zu.

Dennoch sagte mir ihr Blick, dass sie mir kein Wort abnahm und sie mit mir definitiv noch nicht fertig war. Aber das hatte Zeit. Sie wusste, dass ich meine Ruhe brauchte.

Müde schloss ich meine Augen und dachte über die heutigen Geschehnisse nach. War das alles wirklich passiert? Nur ungern wollte ich mich an das Treffen im Wald zurückerinnern. Doch ich musste. Um meinetwillen. Ich musste verstehen, was dort passiert war.

Hatte ich mir das nicht eingebildet? Es wirkte so surreal! Aber es gab da diese Brandwunden. Waren die nicht Beweis genug? Von woanders konnten die schließlich nicht kommen. Hätte es einen Waldbrand gegeben, hätte ich das gewusst. Meine Mutter hätte es mir gesagt. Außerdem hätte mich dann nicht zufällig ein Wanderer gefunden, sondern vermutlich die Feuerwehr.

Und an was anderes erinnerte ich mich noch? War es wirklich kein Waldbrand gewesen? Dann musste der Junge mit den Flammen wirklich existieren. Aber wie konnte das möglich sein? Ich verstand es einfach nicht. So wie er mich verletzt hatte, hätte er doch auch sich selbst verletzen müssen! Aber das Feuer hatte ihm nichts getan. Ich konnte es mir nicht eingebildet haben! Oder etwa doch? Aber wenn er wirklich existierte; wer war er und warum hatte er mich töten wollen? Warum ich? Es gab doch noch unendlich viele andere Menschen! Das war so verrückt! Ich war bloß Mika Keaton, ein vollkommen gewöhnliches sechzehnjähriges Mädchen. Ein Niemand.

Ungläubig schüttelte ich meinen Kopf. Himmel! Er hatte Hände, die in Flammen standen! Das hatte ihm nicht mal etwas ausgemacht! Ein fassungsloses Lachen entfloh mir. Es klang erbärmlich krächzend. Meine Augen begannen zu brennen und das Lachen verwandelte sich in ein verzweifeltes Schluchzen. Wie konnte das alles nur geschehen? Leise weinte ich. Ich wollte das doch überhaupt nicht! Wieso musste so etwas passieren?

Hoffnungslos blinzelte ich die Tränen weg und blickte still hinaus aus dem Fenster. Die Sonneschien. Welch eine Ironie.

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