Kapitel 71.4 - Mission: Saimon

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Eine Weile lang starrte Finley mich einfach nur an. Versuchte sich an das Geschehen in der Nacht zu erinnern. Wohl mit Erfolg. Denn erst erblasste er, doch schließlich errötete er. Er erinnerte sich an all das, was er gesagt hatte.

Vorsichtig begann er zu sprechen. Suchte nach den richtigen Worten. "Habe ich dir wirklich die ganze Zeit die Ohren vollgeredet, davon, wie beeindruck ich von dir bin?", fragte er. Finley fühlte sich sichtlich unwohl.

Ich versuchte es mit einem Lächeln. Vielleicht würde er sich dann weniger unwohl fühlen. "Ja, hast du.", sagte ich. "Am Anfang war das wirklich ganz lustig, aber irgendwann warst du ziemlich nervig."

Finley sah so aus, als wollte er am liebsten für immer im Boden versinken. "Scheiße.", sagte er. Ich jedoch zuckte nur mit meinen Schultern. "Scheiße war es jetzt nicht. Nur etwas nervig auf Dauer."
Schweigend starrte Finley aus dem Fenster. Wir hatten die Autobahn verlassen und fuhren auf einer nicht sehr viel befahrenen Straße weiter.

Finleys Blick flackerte kurz zu mir. "Also bist du wirklich eine Hexe?"
Hin und her gerissen sah ich ihn an. Sollte ich es ihm wirklich sagen? Aber andererseits konnte er sich an alles erinnern. Klar, ich konnte es ihm immer noch einreden, dass er das glaubte gesehen zu haben, weil er betrunken war. Wollte ich das? Finley war harmlos. Und hiernach würde ich ihn nie wiedersehen. Es war wirklich zu blöd, dass jetzt weder Desdemona, noch Nawin wach war.
"Zum Teil.", sagte ich zögerlich und sah kurz zu Desdemona, die friedlich schlief. Würde sie mir jetzt den Kopf abreißen?
"Zum Teil?", wiederholte Finley neugierig. Mit großen Augen sah er mich an. "Bist du also nur eine halbe Hexe?" Aufgeregt wartete er auf meine Antwort. Er sah in diesem Moment aus wie ein kleines Kind, dem gesagt wurde, dass Einhörner existierten. So viel kindliche Freude hatte ich schon lange nicht mehr gesehen. Und es machte mich glücklich, dass trotz all dem was geschehen war und wie sich meine Welt verändert hatte, es noch irgendwo eine Person existierte, deren Welt noch so heil war.
Ich schüttelte meinen Kopf. "Ich schätzte, ich bin zu einem drittel eine Hexe." Ich hatte nicht geglaubt, dass Finley noch faszinierter und begeisterter gucken könnte.

Er brauchte gar keine weiteren Fragen zu stellen, ich konnte ihm ansehen, dass er mehr wissen wollte. Ach, was soll's? Finley wird mich nie wieder sehen und niemand würde ihm glauben, würde er es weiter erzählen. Außerdem tat es gut, jemanden zu sehen, der nicht sofort abstoßend reagierte, wenn er von etwas erfuhr, das nicht in seine Welt passte. Anders als Liam. Zum Beispiel.
Blieb nur noch die Frage, wie Finley reagieren würde, wenn er auch das blutige Drittel erfuhr.
"Zum Teil bin ich auch Elementary.", fing ich mit dem harmloserem an. "Weißt du, was das ist?" Finley schüttelte seinen Kopf. "Ein Elementary kann jeweils ein Element kontrollieren.", erklärte ich. "Und von diesem Element gibt es auch noch Abstufungen, die dann ein eigenes Element ergeben." Finley nickte aufmerksam. Da ich nicht vorhatte, ihm das alles noch ausführlicher zu erklären, kam ich dann direkt zu dem unschönen Teil. "Tja. Und dann bin ich noch ein Vampir."

Kaum hatte ich das gesagt, klappte Finley die Kinnlade herunter. Vollkommen fassungslos sah er mich an. Beobachtete mich ganz genau, als versuchte er sich vorzustellen, wie ich ein Vampir sein konnte. Klar, in dieser Gestalt war es wirklich schwer sich das vorzustellen. Nichts wies darauf hin, dass ich zu den blutsaugenden Monstern gehörte. Vielleicht gefiel mir diese Gestalt deshalb so gut.
"Krass.", sagte Finley.
"Nicht: Digga, krass?", fragte ich grinsend.
Peinlich berührt schaute Finley wieder aus dem Fenster. "Das ... So rede ich sonst nicht.", rechtfertigte er sich. Er sah wieder zu mir. "Kann ich mal sehen?" Als er meinen fragenden Blick sah, fügte er hinzu: "Du weißt schon. Die Zähne."
Seufzend tat ich Finley den Gefallen und fletschte meine Zähne. Begeistert musterte er meine spitzen Eckzähne. "Krass.", wiederholte er. "Das ist echt cool, weißt du das?"
Ich zuckte daraufhin mit meinen Schultern. "Cool würde ich jetzt nicht unbedingt sagen."
Finley wollte etwas entgegnen, als auf einmal Nawin sich gähnend im Kofferraum aufsetzte und sich streckte. Finley entwich ein erschrockener Schrei. Er zuckte zurück und starrte Nawin fassungslos an. "Was zur Hölle?!", rief er. "Im Kofferraum? Echt jetzt?"

Nawin runzelte kurz seine Stirn und musterte Finley. "Ja, was dagegen?" Schnell schüttelte Finley seinen Kopf. Daraufhin beachtete Nawin Finley gar nicht mehr, sondern musterte die Gegend um uns herum. "Wir sind bald da.", informierte er mich. "Wir sollten Des wecken."
Ich seufzte. "Das wird unschön."
Nawin nickte zustimmend. "O ja."
Widerstrebend wendete ich mich Desdemona zu. Ihre Wange klebte an der kalten Fensterscheibe und ihr Gesicht sah ziemlich eingequetscht aus.
Vorsichtig legte ich meine Hand auf Desdemonas Schulter. "Hey.", sagte ich. "Desdemona." Sanft rüttelte ich sie. Sie brummte etwas Unverständliches. Vermutlich irgendeine Beleidigung. "Wach auf.", sagte ich. "Wir sind bald da." Ich rüttelte stärker an ihrer Schulter. Schlecht gelaunt öffnete sie dann doch ihre Augen. "Guten Morgen.", sagte ich.
Desdemona brummte. "Wirklich, Mika. Niemand mag es, wenn man ihm einen guten Morgen wünscht.", belehrte sie mich.
"Okay. Ich merk es mir.", meinte ich und Desdemona wirkte ein klein wenig zufriedener. Bis sie Finley bemerkte.
"O nein!", wimmerte sie. "Die verliebte Labertasche!"
Entsetzt sah Finley sie an. "Wie bitte?!", rief er aus.
Desdemona lachte. "Sind wir jetzt wieder nüchtern, was?"
Finley wollte daraufhin etwas erwidern, doch Nawin kam ihm zuvor.

 "Wir sind da!", reif er aufgeregt. Nervosität machte sich in ihm breit. Er hatte sich gerade aufgesetzt und starrte gebannt aus der Heckscheibe. Vor uns war ein eine Art Strandhaus aufgetaucht. Es stand inmitten einer grünen Fläche und war von schönen, ordentlich angepflanzten Bäumen umgeben. Einst hatte es hier wohl viele Blumen gegeben, doch heute waren die vielen sorgsam angelegten Blumenbeete leer. Ebenso der Blumenkasten, der vom Dach der Veranda herunter hing. Hinter dem Strandhaus hörte ich das sanfte Rauschen des Meeres. Es war nur ein paar Meter entfernt. Unten, an der Klippe.

Nawin schluckte als wir uns seinem ehemaligem Zuhause näherten.
"Stopp.", befahl ich Daniel. "Bis hier und nicht weiter." Daniel bremste. Nawin atmete noch einmal tief ein uns aus, ehe er die Kofferraumtür öffnete und das Auto verließ.
"Dann mal los!", sagte Desdemona, riss die Tür auf und hüpfte aus dem Wagen. "Komm schon, Mika!", rief sie mir zu, als sie bemerkte, dass ich noch sitzen geblieben war.
"Warte kurz.", sagte ich und wandte mich Finley zu, der ein wenig enttäuscht aussah.
Ich sah Finley an und wusste nicht was ich sagen sollte. Wie sollte ich mich von ihm verabschieden? Immerhin wusste er schon so viel über mich.
Etwas unbeholfen zog Finley mich in eine Umarmung. "Ich hoffe, wir sehen uns wieder, Mika.", sagte er. Ich hatte gar keine Zeit, seine Umarmung zu erwidern, da ließ er auch schon von mir ab. Ein kleines Grinsen erschien auf seinen Lippen. "Du bist wirklich unglaublich.", sagte Finley. "Könnte ich vielleicht deine Nummer haben?" Unsicher fuhr sich Finley mit der Hand durch die braunen Haare. "Damit wir uns irgendwann wiedersehen können."
Peinlich berührt strich ich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. "Nun ja, könntest du. Aber ich habe kein Handy mehr.", gab ich verlegen zu.

Damals, bei meiner abrupten Flucht aus dem offiziellen Elementary Internat hatte ich alle meine Sachen auf meinem Zimmer gelassen. Unter anderem auch mein Handy, das sowieso nicht immer funktioniert hatte.

"Oh.", machte Finley enttäuscht. "Okay."
"Aber", sagte ich schnell. "du kannst mir auch deine Nummer oder deine Adresse geben!" Finleys Miene erhellte sich. "Gut. Warte kurz." Er griff in den Fußraum und tastete mit seiner Hand den dunklen, mit Teppich, belegten Boden ab. "Aha!", machte er und zog mit einer zufriedenen Miene einen Kugelschreiber hervor. "Gib mir mal deinen Arm."
Ich tat was er sagte und reichte ihm meinen linken Arm. Vorsichtig schob Finley den Ärmel von Wills Jacke hoch und begann mit dem Kugelschreiber erst Zahlen und dann Buchstaben auf meine Haut zu schreiben. "So.", sagte er als er fertig war. "Ich hoffe, du rufst an." Er grinste mir noch einmal zu, dann verabschiedete ich mich und verließ den Wagen. Kaum hatte ich das getan, entließ ich auch Daniel aus meinem Bann. Doch bevor ich das tat, befahl ich ihm noch, umzukehren und dorthin zu fahren, wo er eigentlich hingewollt hatte. Etwas verwirrt sah Daniel sich um. Finley, der allerdings verstanden hatte, dass sein Freund nichts von all dem hier erfahren durfte, redete auf ihn ein. Er warf mir noch einmal einen kurzen Blick zu, ehe Daniel den Wagen wendete und davon fuhr.

Ich riss mich von dem Anblick des davonfahrenden Wagens ab. Desdemona und Nawin standen ein paar Meter von mir entfernt in der Nähe des Strandhauses. Mit schnellen Schritten gesellte ich mich zu ihnen. Nawins Herz raste. Das Blut schoss ihm mit einer unglaublichen Geschwindigkeit durch die Adern. Obwohl er so nervös war, war er bereit. Bereit, seinen kleinen Bruder aus den Fängen der Jäger zu befreien.

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