Kapitel 54 - Nicht allein

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Zu Schlucken fiel mir schwer. Mein Magen fühlte sich an, als sei er mit schweren Steinen gefüllt . Nervös versuchte ich mich ein wenig zu lockern, doch ich war zu angespannt. Meine Augen hasteten beinahe panisch zwischen meinem Bruder und dem Rest meiner Familie hin und her. Will setzte an, etwas zu sagen, öffnete seinen Mund, überlegte und dann schloss er ihn wieder. Sagte keinen Ton. Sah mich bloß an. Ich wollte im Boden versinken. Irgendwie kam ich mir wieder vor wie damals, als ich ihm gebeichtet hatte, weshalb ich ihn gemieden hatte und er ohne ein Wort zu sagen gegangen war. Mies. Das war das Wort, das die Situation gerade am besten beschrieb. Ich war in mich zusammengesunken, sah dennoch zu Will auf. In meinen Augen schimmerte noch der letzte Hauch von Hoffnung, die mir geblieben war. Niemand sagte etwas. Sie sahen Will und mich nur an. Ich wollte im Erdboden versinken. Es schien mich zu erdrücken. Diese Ungewissheit. Sie gefiel mir nicht.
Will sagte noch immer keinen Ton, sah bloß wortlos auf mich herab. Auch schien niemand der anderen etwas sagen zu wollen. Weder meine Mutter, noch meine Großeltern. Sie schwiegen. Und dieses unerträgliche Schweigen verletzte mich so sehr, wie es auch Worte konnten. Ich wusste nicht, wie lange ich das noch aushalten konnte.
Desdemona neben mir wurde unruhig. Ich konnte sehen, wie sich ihre Hände zu Fäusten ballten und sie jeden einzelnen mit einem vernichtenden Blick strafte. Sie tat sich schwer damit, meine Familie nicht einfach anzuschreien. Doch ich rechnete es ihr hoch an. Langsam begriff ich auch, dass es mir nicht weiterhelfen würde, würde ich weiterhin wie zuvor mit ihnen mit schweigen. Es widerstrebte mir die zu sein, die schon wieder redete, doch ich kam wohl nicht hier herum. Ich setzte an, etwas zu sagen, doch da kam plötzlich Bewegung in Will. Er hob seine Hand, um mir zu verdeutlichen, dass ich still sein wollte. Angespannt presste ich meine Lippen fest aufeinander. Endlich sah er mich richtig an. Es wirkte nicht mehr so, als würde er durch mich hindurch sehen. Will sah mich direkt an. Ehe ich realisierte, was jetzt passierte, murmelte er einmal kurz "Scheiße.", packte mich und plötzlich fand ich mich in seiner Umarmung wieder. Wir redeten nicht weiter. Aber das war in Ordnung. Vorsichtig erwiderte ich die Umarmung. Es tat gut. Es tat gut zu wissen, dass ich mir keine Sorgen machen musste, dass Will mich vielleicht im Stich lassen könnte. Ich konnte gar nicht ausdrücken, wie gut es mir tat. Nach einer Weile lösten wir uns, Auf einmal vernahm ich ein Schluchzen. Besorgt sah ich in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Mein Blick fand meine Mutter, die noch an der selben Stelle stand wie zuvor. Ihre linke Hand hatte sie auf die Lehne des Sessels gelegt, auf dem Cecile saß. Sie zitterte am ganzen Körper. Heiße Tränen rannen ihr über das Gesicht und ihre Augen waren leicht gerötet. "Mum, was hast du?", fragte Will erschrocken und war auch schon sofort bei ihr.
Unsere Mutter rang sich ein kurzes Lächeln ab, während sie ihn ansah. "Es ist nichts.", sagte sie. Selbst ihre Stimme zitterte. Sie tätschelte Will kurz, ehe sie sich mir zuwandte. "Es tut mir so leid, Mika." Sie wischte sich mit dem Ärmel über ihr Gesicht, ehe sie mich leicht anlächelte. "Du kannst nichts dafür." Mums linke Hand rutschte von der Sessellehne, ehe sie auf mich zukam und mich wie Will zuvor in ihre Arme schloss. "Es tut mir so leid, dass ausgerechnet dir das passieren musste. Dass ausgerechnet du die Gene hast." Sie schluchzte leise. Ich vernahm ihren leicht blumigen Duft. Ein wenig erinnerte sie mich an Hanne.
"Rhea, pass doch auf, du erdrückst das Kind noch ...", sagte Cecile. Ihre Stimme klang ganz rau. Sie zog meine Mutter beiseite. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass sie ihren Sessel verlassen hatte. Kurz darauf zog sie Mum auch schon beiseite, ehe sie selbst damit begann, mich an sich zu drücken. Ich musste sagen, dass eher Cecile mich erdrückte, als Mum.
"Mum!", rief meine Mutter empört aus und verschränkte ihre Arme vor ihrer Brust, während sie Cecile tadelnd musterte.
"Ja, ja.", brummte Cecile, ließ mich los und setzte sich wieder. Nun waren alle Blicke auf Arthur gerichtet. "Na los, Arthur! Sag auch was!", forderte Grandma Cecile ihn auf. Arthur hob sehr zu Ceciles Missfallen in aller Seelenruhe seine Zeitung auf, die bis gerade noch immer am Boden gelegen hatte. Als er sich wieder aufgesetzt hatte und seine Zeitung aufgeschlagen auf seinem Schoß ruhte, sah er zu seiner Frau. "Cecile, was soll ich groß sagen? Es ist doch alles geklärt.", meinte Arthur. Cecile schnaubte empört auf und stemmte ihre Hände in ihre Hüften. "Vielleicht kannst du ja sagen, was du von der ganzen Sache hältst, Arthur!", wies Cecile ihn zurecht. "Das arme Mädchen muss doch wissen, dass alles okay ist!" Es war zwar ganz nett von Cecile gemeint, aber dennoch musste sie nicht so von mir reden, als sei ich nicht anwesend.
Arthur blieb ruhig. "Cecile, Mika ist kein kleines Kind mehr. Sie weiß sehr wohl, dass alles okay ist." Er sah zu mir. "Nicht wahr?" Ich bemerkte Ceciles Blick auf mir. Ich kam mir vor, als würde ich sie hintergehen, als ich nickte und somit Arthur zustimmte. Cecile seufzte und ließ es darauf beruhen. "Schon gut, Mika. Fühle dich nicht unter Druck gesetzt.", teilte sie mir lächelnd mit.
"Mika.", begann Will und schielte unsicher zu unseren Eltern. "Da du noch nicht so ganz kontrollieren kannst, wann und wohin du dich in Luft auflöst." Er stockte kurz und sah mir in die Augen. "Was hältst du davon, wenn ich mit euch auf das Darkstone Internat gehe?" Er kratzte sich am Nacken. "Nun ja, ihr könnt nicht zu lange weg bleiben und ..." Erneut schielte er zu unseren Eltern. "Ich fühlte mich im Elementary Internat nicht mehr wohl. Und ich glaube, das habe ich auch nie wirklich. Weil dort niemand wie ich war.", beichtete er. Ich konnte ihn verstehen. Sehr gut sogar. Und es freute mich, dass er auf meine Schule kommen wollte. Dann würde ich auch mehr Zeit mit ihm verbringen können. Das Problem war bloß, dass niemand im Darkstone Internat wissen durfte, dass wir Geschwister waren. Denn ansonsten war der komplette Lune James Plan vollkommen umsonst gewesen. Und dann wäre nicht nur ich in Gefahr.

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