Kapitel 56.2 - Nawin und Desdemona

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Sie lief zügig zu unserem Zimmer. Ich folgte ihr schweigend. Wieso war mir Nawin nicht schon vorher aufgefallen? Er hatte doch gemeint, er hätte sich schon öfters entschuldigt. Doch die ganze Zeit über, seit ich hier war, hatte ich ihn nicht einmal mit Desdemona reden hören. Ich dachte nach. Aber ich hatte ihn in ihrer Nähe gesehen! Als ich Liam davon abhielt Desdemona mit seinen Schatten zu verletzen. Und auch das ein oder andere mal in den Gängen. Doch das war nichts Ungewöhnliches. Schließlich ließ es sich nicht vermeiden, in den Gängen aufeinander zu treffen.

Wir erreichten unser Zimmer. Desdemona schloss die Tür auf und ich schloss sie wieder hinter mir. Sie zog beide Sessel näher und bedeutete mir, mich zu setzen. Ich ließ mich in das weiche Polster des Sessels sinken. Gegenüber nahm Desdemona Platz. Nachdenklich blickte sie aus dem Fenster. Ihre Finger trommelten unruhig auf die Armlehne. Schließlich wandte sie sich mir zu. „Du weißt, dass meine Tante meine Familie an die Jäger verraten hat, oder?", fragte sie mich.

Mein Vater hatte das erwähnt, aber mehr wusste ich auch nicht. „So halbwegs.", antwortete ich. „Ich weiß nicht genau, was passiert ist."

Desdemona seufzte und richtete sich in ihrem Sessel ein wenig auf. „Na gut. Dann erzähle ich dir das auch noch." Sie stoppte kurz, dann fuhr sie fort. „Ich war dreizehn, als es passierte. Ich lebte mit meinen Eltern in einem kleinen Häuschen im Nirgendwo. Du musst wissen, dass die Jäger Schatten Elementary oft für Ghosts halten aber auch wenn sie wissen, dass wir Schatten sind, ist es ihnen egal und sie töten uns, da wir für sie wie Ghost Elementary sind." Gedankenverloren strich ihr Finger über den rauen Bezug des Sessels. „Meine Mutter ist die Schwester meiner Tante. Ebenfalls eine geborene Darkstone. Die Ältere von beiden. Eigentlich hätte sie das Darkstone Castle geerbt, doch sie wollte nicht. Deswegen bekam Cassandra es. Meine Mutter wollte anders als ihre Schwester und der Rest der Familie nichts mit dem ganzen Erbe zu tun haben und schottete sich auch von ihnen allen ab, weswegen wir mitten im Nirgendwo lebten. Doch Cassandra kam öfters vorbei. Sie verstanden sich gut. Meine Mutter und meine Tante." Desdemonas Gesicht zeigte keine emotionale Regung. „Jedenfalls", erzählte Desdemona. „heiratete meine Mutter meinen Vater und nahm seinen Nachnamen an, was ihrer Familie nicht gefiel. Sie alle waren stolz auf unseren Namen und meine Mutter zog ihn nach der Meinung meiner Großmutter in den Dreck." Verbittert knirschte Desdemona mit ihren Zähnen. „Sie legte viel Wert auf unseren Familiennamen. Doch nun zum eigentlichen Punkt. Cassandra verhielt sich eines Tages merkwürdig, als sie bei uns zu Besuch war. Es fing schon damit an, dass sie ihren Raben nicht dabei hatte. Und sie wirkte ziemlich nervös. Sie sah sich immer wieder um, als hätte sie Angst, von irgendwem verfolgt zu werden." Desdemona schnaubte verächtlich bei dieser Erinnerung. „Sie sagte irgendwas davon, dass die Jäger es auf sie abgesehen hätten und sie nicht wüsste, was nun mit ihr passieren würde. Sie hatte Angst um ihr Leben. Ich sollte das gar nicht mitbekommen. Aber ich habe gelauscht, als sie mit meiner Mutter sprach. Es klang irgendwie so, als wollte sich Cassandra wegen irgendetwas rechtfertigen." Ich bemerkte, wie sich ihre Hände zu Fäusten ballten. „Meine Mutter war anscheinend der selben Meinung wie ich, denn sie fragte Cassandra, weswegen sie sich denn so rechtfertigen müsse. In diesem Moment brach Cassandra in Tränen aus und beinahe zeitgleich stürmten die Jäger unser kleines Haus. Meine Mutter wurde ganz hektisch und rief nach meinem Vater. Cassandra stand einfach noch an der selben Stelle und tat nichts. Sie sah einfach zu, wie als aller erstes meine Mutter getötet wurde." Sie verzog ihr Gesicht, als hätte sie etwas furchtbar Bitteres gegessen. In mir zog sich etwas zusammen. Wie konnte jemand das seiner Familie nur antun? Wie konnte Cassandra mit dem Wissen, dass sie Schuld an dem Tod ihrer Schwester und deren Ehemann war, leben? Dass ihre Nichte wegen ihr eine Waise war? „Mein Vater kam angerannt, sah mich aber noch an der Tür stehen, wie ich vollkommen regungslos auf den toten Körper meiner Mutter starrte. Er rief, ich sollte gehen und mich selbst in Sicherheit bringen. Er rief, er würde mich finden." Tränen schossen in Desdemonas Augen und ihre Stimme begann zu beben. „Aber er kam nicht wieder. Er stürmte in das Zimmer, wo sich die Jäger, meine Mutter und meine Tante befanden. Und anders als er es wollte, rannte ich nicht davon. Ich sah zu. Ohne irgendetwas zu unternehmen." Die Tränen rannen ihr nun wie Wasserfälle über die Wangen. „Ich hätte es vielleicht verhindern können. Doch ich habe es nicht.", schluchzte Desdemona. „Ich sah einfach nur zu, wie sie auch meinen Vater töteten. Und dann verschwanden sie einfach. Weil sie nicht wussten, dass ich existiere. Sonst hätten sie nach mir gesucht. Als sie weg waren, bemerkte mich meine Tante." Sie verzog ihr Gesicht zu einer düsteren Miene. „Du hättest sehen sollen, wie entsetzt sie war, als sie sah, dass ich wusste, was sie getan hatte. Sie war so entsetzt gewesen, dass ich das alles mitangesehen hatte." Desdemona wischte sich mit ihren Händen die Tränen weg und sie holte noch einmal tief Luft, bevor sie weiter erzählte. „Cassandra löste sich aus ihrer Starre und wollte auf mich zu gehen, doch ich schrie sie an, dass sie mir bloß nicht zu nahe kommen sollte, dass alles ihre Schuld war und dass ich sie hasste. Dass sie ein Monster war. Und dann rannte ich. Ich wusste nicht wo ich hin sollte. Die Eltern meiner Mutter waren manchmal echt ätzend und sonderlich leiden konnten die mich auch nicht. Aber die Eltern meines Vaters, die mich wirklich gemocht haben, waren bereits zwei Jahre zuvor von den Jägern getötet worden. Und da mein Vater keine Geschwister hatte, konnte ich auch nicht zu ihnen. Ich wollte nicht zu meinen Großeltern, doch ins Heim wollte ich auch nicht und ich wusste, dass ich bei meinen Großeltern in Sicherheit sein würde. Also ging ich zu ihnen. Ihnen gehörte zusätzlich zum Dakstone Castle noch eine alte Villa, weshalb sie ihr Erbe bereits an meine Tante weitergegeben hatten." Desdemona machte eine Pause, starrte auf ihre Hände. „Ich habe sie gehasst. Ein Jahr habe ich es dort ausgehalten, ehe mein Großvater an irgendeiner Krankheit starb und kurz darauf fanden uns die Jäger, die meine Großmutter töteten. Mir blieb nun nichts anderes mehr übrig, als zu meiner Tante zum Darkstone Castle zu gehen." Sie lachte bitter auf. „Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr ich es gehasst habe. Wie sehr ich mich gehasst habe, weil ich zu der Verräterin ging, wegen der meine Eltern starben. Cassandra bemühte sich. Überhäufte mich mit Entschuldigungen und mit Geschenken. Sie bereut es. Noch heute. Doch das macht nicht wieder das gut, was sie getan hat. Ich kapselte mich vollkommen ab. Und ich traf das erste mal auf Liam. Der war bereits lange vor mir im Darkstone Internat gewesen. Ebenfalls Jäger, glaube ich. Er fand Spaß daran, mich zu ärgern. Er wusste gar nicht, wie sehr mich das fertig machte. Erst der Tod meiner Eltern, Cassandras Verrat, der Tod meiner Großeltern, meine Ankunft auf Schloss Darkstone. Da brauchte ich nicht noch so jemanden wie Liam." Desdemona seufzte und sie lehnte sich leicht vor. „Und dann kam Nawin. Er ging in die erste Klasse und war der einzige, der nett zu mir war. Er half mir über die Sache mit meinen Eltern. Und er half mit bei der Sache mit Liam. Wann immer Liam kam und mich nervte, brachte Nawin ihn dazu, zu verschwinden." Desdemona sah mich nun das erste mal seit sie zu erzählen begonnen hatte richtig an. Sie sah ziemlich fertig aus. Es war sicher nicht leicht, dass alles wieder zu durchleben. Und wenn es auch bloß die Erinnerungen waren. „Nawin war mein bester Freund. Er war wie der Bruder, den ich nie hatte. Wir verbrachten viel Zeit miteinander. Doch dann, eines Tages, als ich sechzehn wurde und in die erste Klasse kam, ignorierte er mich plötzlich. Das hat mich fertig gemacht, weißt du? Ich hatte niemanden mehr. Nur mich selbst. Er ließ mich allein mit meinen Gedanken, mit Cassandra, mit Liam. Nun war ich vollkommen allein." Wut brodelte in Desdemonas Augen auf. Wut auf Nawin. Dafür, dass er sie hatte sitzen lassen. Ohne auch nur ein Wort zu sagen. „Ein paar Wochen bevor du ankamst, begann er wieder auf mich zuzugehen. Entschuldigte sich, sagte, es würde nie wieder vorkommen. Aber eine Entschuldigung reicht nicht, um alles wieder gut zu machen. All die Zeit, in der er mich allein gelassen hat." Ich konnte Desdemona verstehen. Weshalb sie Nawin keine zweite Chance mehr gab. Das konnte ich wirklich und auf einmal tat er mir gar nicht mehr so leid. Es war seine Schuld. Doch wieso hatte er sie so plötzlich ignoriert? Das machte doch keinen Sinn. Sie waren beste Freund gewesen. Es war alles gut. Wieso also hatte das so plötzlich aufgehört?


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