Kapitel 51 - Wie Liam die Wahrheit erfuhr

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Abwartend sah Liam mich an. "Du weißt, was ich will.", sagte er mit einer Ruhe, die nicht ganz zu dem Misstrauen in seinen Augen passen wollte. Und ich hatte doch tatsächlich gedacht, dass wir mittlerweile so etwas ähnliches wie Freunde waren. Ich hatte mich wohl geirrt. Sein Verhalten während der Reise nach London und zurück war wohl nur so gewesen, damit es für uns beide erträglicher war, während der jeweils andere dabei war. Ich konnte nicht leugnen, dass mich diese Erkenntnis enttäuschte. Doch ich behielt meine gefasste Mimik bei. Ich wollte nicht, dass Liam sah, wie sehr es mich doch verletzte. Und eigentlich wollte ich auch nicht wahrhaben, dass es mich überhaupt verletzte. Für mich war Liam ein Teil unserer Gruppe geworden, doch das konnte ich nun wohl vergessen. Das Problem war nur, dass ich noch öfters mit Liam zu tun haben würde, da Desdemona ihn mochte. Auch wenn sie es nicht zugeben würde. Allerdings gab es bei dieser Sache noch ein weiteres Problem. Sollte Liam schlecht auf die Wahrheit reagieren, könnte es passieren, dass er auch wütend auf Desdemona sein würde.
Ich nickte. "Ja, das weiß ich." Doch ich wusste nicht, wie ich anfangen sollte. Bei Desdemona, so kam es mir vor, war es leichter gewesen. Aber da hatte ich auch nicht viel Zeit gehabt nachzudenken, weil ich überhaupt nicht vorgehabt hatte, ihr davon zu erzählen. Es war ein dummer Zufall gewesen. Natürlich hatte ich die ganze Zeit über nicht vergessen, dass ich Liam versprochen hatte, es ihm zu sagen. Doch ich hatte den Gedanken verdrängt. Ich hatte mir gedacht, ich würde spontan schon wissen, wie ich es ihm erzählen würde. Doch nun, da es so weit war, hatte ich überhaupt keine Ahnung wie ich überhaupt erst einmal anfangen sollte.
Liam sah mich abwartend an und wurde langsam sichtlich ungeduldiger. "Und? Was ist jetzt?"
Desdemona schnaubte abfällig, ging auf Liam zu und stellte sich mit vor der Brust verschränkten Armen vor ihm hin. "Jetzt hör mal zu! Sei leise und dräng sie nicht so! Du hast keine Ahnung, zu was du sie da gezwungen hast!" Desdemonas grüne Augen durchbohrten die grünen Augen von Liam. Beide schienen sich ein Blickduell zu liefern, doch keiner der beiden war gewillt aufzugeben. Sie funkelten sich aus wütend blitzenden Augen an und ich glaubte, es würde nicht mehr lange dauern, bis sie ihre Schatten gegeneinander aufhetzten. Also entschied ich mich dazu, etwas zu unternehmen.
Ich griff nach meiner Magie, die sich tief in mir verbarg. Ich griff nach ihr und befahl ihr, heraus zu kommen. Ich hielt ihre Fäden in meiner Hand. Jetzt musste ich sie bloß noch ausspielen. Doch heraus kam etwas komplett anderes. Etwas, das mich selbst erschreckte und Liam wohl noch aufmerksamer machen würde.
Plötzlich erschien die Gestalt eines etwa sechzehnjährigen Mädchens vor uns. Liam und Desdemona machten erschrocken einen Schritt zurück und ich bemerkte, dass Liam Desdemona an der Hand hinter sich in Deckung zog. Desdemona starrte die durchscheinende Erscheinung aus großen Augen an.
Liam dagegen hatte die Augen zu Schlitzen zusammengekniffen und schien lauernd auf einen Angriff zu warten. Doch es kam keiner.
Auch ich konnte meine Augen nicht von der durchscheinenden Erscheinung abwenden. Sie hatte irgendetwas an sich, das mir irgendwie bekannt vorkam.
Die Gestalt stand reglos in dem Raum, sagte keinen Ton und sah sich auch nicht um. Sie sah aus blauen, toten Augen auf die beiden Personen, die vor ihr standen. Dennoch bemerkte ich ihre Verwirrung, mit der sie Liam und Desdemona ansah. Und mit einem Schlag wurde mir klar, weshalb sie mir so schrecklich bekannt vorkam. Meine Augen weiteten sich erschrocken, ich gab einen erstickenden Laut von mir, sprang von dem Sessel auf und taumelte einige Schritte zurück. Somit zog ich ungewollt die Aufmerksamkeit von Liam, Desdemona und der durchscheinenden Gestalt auf mich. Ihre Augen lagen nun auf mir und auch ihre Augen weiteten sich. Liam sah mich fragend an und Desdemona musterte mich besorgt, doch in Gegenwart der Gestalt wagte sie es nicht, zu sprechen.
Nun da mich die Gestalt des Mädchens ansah, konnte ich mich nicht mehr bewegen. Ich war wie erstarrt. Das blanke Entsetzen stand mir ins Gesicht geschrieben. Ich wagte es nicht zu atmen. Die Gestalt vor mir hatte blondes Haar, in dem eine weiße Feder steckte. Ihre damals so vor Leben sprühenden Augen wirkten nun tot und leer. Vor mir stand Claire Nuvola. Aber wie konnte das sein? Wie war das möglich? Sie war tot! Das sollte ich doch wohl am besten wissen! Mein Herz schien sich zu verkrampfen. Sie sollte nicht mehr hier sein. Wieso war sie es dennoch? Wieso?
Claire schien mich nicht zu erkennen. Wie auch? Ich sah ja ganz anders aus. Meine Atmung war unregelmäßig und ich wünschte mir einfach in genau diesem Moment tot umzufallen. Ich wollte Claire nicht gegenüberstehen. Nicht, nachdem ich sie eigentlich getötet hatte. Ich konnte nur hoffen, dass sie mich nicht erkannte. Wieder kamen in mir die Erinnerungen hoch. Erinnerungen, die ich am liebsten vergessen wollte. Erinnerungen an Claire, Damon und Will.
Das Entsetzen auf ihren Gesichtern.
Claire legte ihren Kopf schief und musterte mich nachdenklich. An irgendwen schien ich sie wohl doch zu erinnern. Ich wagte es nicht zu sprechen, aus Angst, sie würde vielleicht meine Stimme erkennen.
Nun weiteten sich Liams Augen. "Claire Nuvola?!" Er klang vollkommen entsetzt und Claire drehte sich zu ihm um.
"Woher kennst du meinen Namen?", fragte sie ihn. Ihre Stimme klang genau so, wie ich sie in Erinnerung gehabt hatte. Nur gab es einen Unterschied. Ihre Stimme klang müde. Oder sollte ich lieber sagen, nicht mehr ganz so lebendig?
"A-Aus den Nachrichten.", antwortete Liam unsicher.
Claire nickte nur. "Ach ja. Die Nachrichten. Hm." Sie wirkte nachdenklich und verschränkte ihre Arme vor ihrer Brust. "Wissen es alle?"
"Was?", fragte Liam. "Dass du tot bist?" Claire nickte, woraufhin Liam auch nickte. Claire lächelte. "Gut."
Desdemona befreite ihr Hand aus Liams Griff und schielte zu mir. Mit ihren Augen schaute sie fragend zu Claire, ehe sie wieder zu mir sah. Desdemona wollte wissen, ob ich es gewesen war. Ich nickte leicht. Das einzige, zu dem ich noch im Stande war. Desdemona seufzte leise. Damit zog sie leider Liams Aufmerksamkeit auf sich, sowie die, von Desdemona.
"Weißt du darüber etwas?", fragte Liam sie. Desdemona sah einmal kurz entschuldigend zu mir.
"Tut mir leid.", formten ihre Lippen stumm, ehe sie ihr Handy herausholte, es entsperrte und nach irgendetwas suchte. Ich hatte so eine Ahnung, wonach. Doch ich nahm es ihr nicht übel. Sie wusste, was sie da tat. So oder so würde es weil Claire hier war nur noch schlimmer werden, Liam von der Wahrheit zu erzählen. Also war nun auch egal, was von jetzt an passierte.
Desdemona schien jetzt gefunden haben, wonach sie gesucht hatte und gab Liam ihr Handy. Dieser nahm es ihr fragend aus der Hand und wie ich es schon vermutet hatte, sah er das Foto, das Desdemona von uns allen in London aufgenommen hatte. Liam blickte erst einmal in sein eigenes lachendes Gesicht. Er hatte auf dem Bild nur gelacht, weil der Mann, der das Foto gemacht hatte, mit Grimassen versucht hatte, ihn zum Lachen zu bringen. Neben ihm stand eine fröhliche Desdemona. Liam musste leicht schmunzeln. Doch als er die dritte Person auf dem Bild sah, versteinerte sich seine Miene. Sein Blick lag star auf dem schwarzhaarigen Mädchen. Schwarzhaarig, nicht blond. Verschiedenfarbige Augen. Nicht grün. Mika, und nicht Lune.
"Deshalb.", murmelte Liam. "Deshalb wolltest du mir das Foto nicht zeigen." Desdemona nickte, sagte aber kein Wort. Sie wartete genau wie ich auf seine Reaktion. Doch noch immer löste Liam seine Augen nicht von dem Bild. Er sagte nichts mehr.
Claire wurde neugierig und trat näher an Liam heran. Sie schaute auf Desdemonas Handy und sobald sie mich darauf ausmachte, zuckte sie zurück. "Nein.", hauchte sie und wich weiter nach hinten zurück. Liam sah von dem Handy auf und gab es stumm an Desdemona zurück. Er wandte sich mir zu und bemerkte, dass ich immer noch Claire anstarrte. Ihm entging auch nicht, dass ich nicht mehr auf dem Sessel saß, sondern daneben stand und meine Hände sich in die Sessellehne krallten. Doch Liam ignorierte es. Seine Miene konnte ich nicht lesen. Seine Augen drückten auch nicht aus, was er fühlte oder dachte. Ich wusste nicht, ob ich nun lieber verschwinden oder bleiben sollte. Doch im Moment zählte für mich mehr, dass das Mädchen hier war, das eigentlich nicht mehr existieren sollte. Und ich wusste nicht, wie sie hier her kam. Auf jeden Fall war es ein einziger Albtraum.

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