Kapitel 74.2 - Saimon

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Selbstbewusst umschlossen Desdemonas Finger die Klinke der Kellertür. "Bereit, Nawin?", fragte sie noch einmal kurz. Nawin nickte einmal knapp. Sein Gesichtsausdruck zeigte mir, dass er mehr als bereit war. Durch Manou war er schon viel zu lange aufgehalten worden. Er sehnte sich danach, seinen kleinen Bruder endlich wieder in seine Arme schließen zu können.

Mit Schwung riss Desdemona die Kellertür auf und ein leicht modriger Geruch stieg mir sofort in die Nase. Ich verzog ein wenig angewidert mein Gesicht. Mir tat Saimon leid. Die Umstände, unter denen er gefangen war, waren wohl alles andere als angenehm. Aber was sollte ich auch sonst erwartet haben?

Kaum stand die Tür offen, stieß Nawin Desdemona unsanft beiseite und rannte los. Seine Schritte polterten laut auf der Treppe.
"Hey!", rief Desdemona ihm verärgert hinterher. "Wie wär's mit einer Entschuldigung? Außerdem: Sei vorsichtig, du Idiot! Du hast keine Ahnung, was uns alles da noch unten erwartet!" Nawin antwortete nicht. Desdemona fluchte. "Komm, Mika." Sie warf mir noch einen kurzen Blick zu und stürmte Nawin hinterher. Mir blieb nichts anderes übrig, als ebenfalls hinterher zu rennen.

Je weiter wir nach unten kamen, desto modriger roch es. Der Gang war schmal und die Decke hing tief über unseren Köpfen. Eine einzelne Glühbirne war an der Decke befestigt. In den Ecken klebten dicke Spinnennetze. Es roch hier unten nach Schimmel.
Am Ende des Flurs entdeckte ich Nawin. Er stand regungslos, aber angespannt, vor der Tür, hinter der er Saimon vermutete.

Ich hörte sein Herz nervös klopfen. „Alles ist gut.", beruhigte ich ihn. „Manou kann ihm nichts mehr tun. Wir holen Saimon jetzt hier raus und dann bringen wir ihn in Sicherheit."

Nawin zog seine Mundwinkel kurz freudlos hoch. „Das ist es nicht.", meinte er. „Es ist nur, dass ich ihn schon so lange nicht mehr gesehen habe. Er war so lange hier eingesperrt." Er stockte und schluckte. „Ich weiß nicht, ob er noch der selbe Saimon ist." Nawin presste seine Lippen so fest aufeinander, dass sie beinahe weiß erschienen. Seine Augen glitzerten verräterisch. Doch er verbot es sich zu weinen.

"Hey.", sagte Desdemona mit einem aufmunternden Lächeln. Sie legte ihren Arm um Nawins Schultern. "Es wird schon. Saimon wurde schließlich keiner Gehirnwäsche unterzogen. Er wird immer noch der Bruder sein, den du kennst."

Nawin zwang sich zu einem Lächeln. „Ja. Bestimmt hast du recht."

Desdemona grinste. „Natürlich habe ich recht.", sagte sie, woraufhin Nawin nur leicht lächelnd den Kopf schüttelte. Er atmete noch einmal tief durch. Dann überwand er sich und stieß die Tür mit einem kräftigen Ruck auf. Krachend schwand sie gegen die Wand. Nawin betrat angespannt den Raum. Doch anders als erwartet, stürmte er nicht freudestrahlend auf seinen Bruder zu und umarmte ihn. Geschockt stand Nawin mitten in dem sogar überraschend großen Raum, dessen Wände mit einer Tapete beklebt war, die diesen Raum direkt freundlicher wirken ließ. Der Boden war mit Teppich ausgelegt. Die Regale waren überfüllt mit altem Spielzeug, das keiner mehr benutzte und in der Mitte des Raumes hing sogar eine rote Tellerschaukel. Licht erhellte den Raum, der eigentlich wie ein ganz normales Kinderzimmer wirkte. Wäre da nicht dieser eine Unterschied.

In der hintersten Ecke des so freundlich wirkenden Zimmers, kauerte ein etwa zwölfjähriger Junge. Allerdings war dieser in schwere Ketten gelegt, die an seinen Handgelenken und Fußgelenken befestigt waren. Diese Fesseln machten die ganze freundliche Atmosphäre zunichte. Und nun wirkte das Zimmer mehr wie eine seelische Folterkammer.

Saimon befand sich zwar in seiner gewohnten Umgebung, konnte all die wunderbaren Dinge sehen. Doch er konnte sie nicht erreichen. Die Ketten ließen es nicht zu. Und so wurde sein Zuhause zu einer Qual. Er konnte sogar die Tür sehen, die noch nicht einmal abgeschlossen war. Es musste frustrierend sein, der Freiheit so nahe und doch so fern zu sein.

Vor Saimon lag ein unangerührter Teller mit Brot und einem einzelnen Schokoladenriegel. Ebenso ein Glas Wasser, von dem der Junge allerdings noch keinen einzigen Schluck genommen hatte.
Saimon selbst sah vollkommen schrecklich aus. Kein Wunder, dass Nawin ihn so entsetzt anstarrte. Das dunkle Haar war lang und fettig. Strähnig hin es ihm im Gesicht. Für einen zwölfjährigen Jungen sah Saimon noch ziemlich klein und dürr aus. Er war schmutzig und seine Kleidung abgewetzt. Das T-Shirt hing ihm teilweise in Fetzen am Körper. Saimon war barfuß und überall an seinem Körper konnte ich Schrammen sehen, an denen geronnenes Blut klebte. Auf seiner Stirn prangte ein langer Schnitt, der definitiv entzündet war. Doch das alles war gar nicht mal das, was mich am meisten schockierte.
Saimon kauerte mit gekrümmten Rücken reglos in seiner Ecke. Er sah so kleiner aus, als er es ohnehin schon war. Es machte mir Angst, so wie er da saß. Er regte sich nicht. Er schien uns noch nicht einmal bemerkt zu haben. Saimon machte sich kaum Mühe, seinen Kopf oben zu halten. Etwas zog sich in mir zusammen, als ich Saimons Gesicht erblickte. Und ich wünschte mir, dass Nawin seinen Bruder niemals so gesehen hätte. Wie konnten wir ihm nur solche Hoffnungen machen? Nawin hatte geglaubt, dass alles wieder gut werden würde. Dass er zusammen mit seinem kleinen Bruder leben würde und sie gemeinsam über ihre Vergangenheit hinweg kommen würden. Doch das würde niemals geschehen.
Saimons Gesichtsausdruck war vollkommen ausdruckslos. Er wirkte wie versteinert. Dann kamen noch seine Augen. Es waren die selben, die Nawin auch hatte. Doch diese hier, waren leer. Sie wirkten tot. Saimons Körper schien bloß noch eine Hülle zu sein. Sein Geist hatte sich schon vor langer Zeit entfernt.

"Saimon?", hauchte Nawin. Er konnte seine Tränen nicht mehr zurück halten. Widerstandslos flossen sie ihm über das Gesicht. Seine Unterlippe bebte. Doch von seinem Bruder kam keine Reaktion. Nawin schloss fest seine Augen und weinte still. Mit einer Hand strich er sich immer und immer wieder die neu aufkommenden Tränen weg.

Mit trüben Augen sah Desdemona die ganze Zeit zu Nawins Bruder. Sie wusste nicht, welchen Anblick sie schrecklicher fand. Den von Nawin, oder den von Saimon.
Ich sah kurz zu Nawin. Mein Herz fühlte sich schwer an.

Was war hier nur passiert? Wie konnte dieser Junge so handlungsunfähig gemacht worden sein? Lag es allein an dem Schmerz, der ihm zugefügt worden war, dass er nicht mehr die Kraft, oder den Willen aufbringen konnte, seine Ketten zu zerstören?

Erst jetzt bemerkte ich, dass sich Saimons Lippen unaufhörlich bewegten. Mit einem leeren Blick murmelte er leise Worte vor sich hin.
"Nawin!", flüsterte ich. "Er redet. Die ganze Zeit schon." Sofort schoss Nawins Blick zu seinem Bruder.
"Saimon?", fragte er leise und ich konnte die Hoffnung erkennen, die in ihm wieder aufkeimte. Vorsichtig ging Nawin langsam auf Saimon zu. "Ich bin's. Nawin. Weißt du noch?" Saimon reagierte nicht. Doch Nawin war nicht gewillt jetzt aufzugeben. "Saimon?", fragte er erneut. Allerdings klang es dieses mal mehr nach einem Flehen. "Kleiner, komm schon!" Seine Stimme begann zu zittern. Er ließ sich entkräftet neben seinem Bruder auf die Knie fallen. "Saimon, bitte.", flehte Nawin. Erneut sammelten sich salzige Tränen in seinen Augen. Er streckte seine Hand nach der Schulter seines kleinen Bruders aus, doch ließ sie nach halbem Wege schon wieder hoffnungslos sinken. Nawin wandte seinen Blick ab. Sein ganzer Körper bebte.

Desdemona stand mit einem traurigem Gesichtsausdruck an der selben Stelle, wie vorhin. Sie wagte es nicht, etwas zu sagen oder sich von der Stelle zu rühren. Mitfühlend beobachtete sie den verzweifelten Nawin, den alle Hoffnungen verlassen hatten.

Ich versuchte mich auf die gemurmelten Worte zu konzentrieren, die Saimon von sich gab. Vielleicht würden die mehr Licht ins Dunkle bringen. Ich hoffte es. Ich hoffte es sehr.
Es war fürchterlich, Nawin so zu sehen. Und Saimons Anblick war einfach schrecklich.

Es war schwerer als gedacht, Saimons Worte zu verstehen. Er sprach sehr leise und auch seine Lippen bewegten sich kaum merklich.

Doch je mehr ich mich auf ihn konzentrierte, desto besser konnte ich ihn hören. Seine Stimme erklang so plötzlich, dass ich beinahe erschrocken zurück gewichen wäre. Saimons Stimme war unvorstellbar schwach und kratzig. Allerdings verstand ich nun endlich, was er so kaum verständlich vor sich hingemurmelt hatte. Und das, was er sagte, gefiel mir ganz und gar nicht.

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