Kapitel 53.2 - Wiedersehen

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Will sah mich alarmiert an. Unsere Mutter zog ihre Augenbrauen besorgt zusammen. Sie erwarteten wohl das Schlimmste. Nun ja. Wie sie das, was ich ihnen nun erzählen würde auffassen würden, lag ganz bei ihnen und ihrer Definition von "schlimm". Im ganzen Raum redete nicht eine Person. Sie alle waren still und jeder einzelne Blick war auf mich gerichtet. Arthur hatte sogar seine Zeitung auf seinem Schoß abgelegt. Ich spürte Desdemonas aufmunternden Block auf mir. Sie schien sich vollkommen wohl hier zu fühlen und kam sich selbst in diesem Moment nicht fehl am Platz vor. Dafür bewunderte ich sie. Sie konnte selbst dann noch ruhig bleiben, wenn kein anderer es war. Und sie war mutig. Mutiger als ich es je sein würde.
Will, der zu bemerken schien, dass mir das, was es zu sagen galt, schwer über die Lippen ging, fing an, vorsichtig Fragen zu stellen. "Wo bist du gewesen, Mika? Wo bist du hingegangen, nachdem du von hier verschwunden bist?" Ich schluckte. Ich sollte von Anfang an anfangen. Von dem Moment an, an dem ich gegangen bin. Ich fing damit an, dass ich geglaubt hatte, dass es besser sei, wenn ich gehen würde. Als ich das sagte, schnaubte Will abfällig und kassierte deswegen von Desdemona einen Todesblick. Will bemerkte, dass sie ihn böse anstarrte und zog nur eine Augenbraue hoch, als er sie fragend ansah. Als er allerdings bemerkte, dass Desdemona keineswegs vorhatte, aufzuhören ihn anzustarren, wandte er sich seufzend von ihr ab. Ich fuhr fort. "Als ich dann den Wald hinter mir gelassen hatte, habe ich mich mitten auf eine Straße gestellt und gewartet, bis ein Auto kam.", erzählte ich. "Ich habe es zum Anhalten gebracht und dem Fahrer befohlen, zu meiner Pflegemutter zu fahren. Während er fuhr, habe ich fest an Damon gedacht, weil ich wissen wollte, wo er war." Meine Familie sah mich verständnislos an. "Wie willst du denn wissen, wo er ist, wenn du nur an ihn denkst?", fragte mich meine Mutter. Ich deutete auf mein violettes Auge. "Ich denke, das hängt damit zusammen. Ich kann andere Orte sehen, wenn ich es will. Ich kann sehen, was dort vor sich geht, obwohl ich nicht selbst da bin.", erklärte ich ihr. Sie nickte nur.
"Und wo hast du Damon gesehen?", wollte Will wissen. In seinen Augen konnte ich Misstrauen sehen. Misstrauen Damon gegenüber. Ich lächelte traurig. Er hatte angefangen Damon zu vertrauen. Das wusste ich, doch nun tat er es wieder nicht. Und das allein deswegen, weil er gegangen war. Ich konnte ihm ansehen, wie wütend er auf Damon war, weil er mich damals im Stich gelassen hatte. Weil er gegangen war. Es kam mir vor, als sei es vor einer Ewigkeit geschehen, dass ich erfahren hatte, dass er wieder zum "Internat" gegangen war. "Er war im Archiv der Jäger.", sagte ich und versuchte mir meine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Ich sollte ihn hassen. Doch ich konnte es nicht. Ich war einfach nicht in der Lage, ihn zu hassen. Dabei würde es besser sein, wenn ich es wäre. Allein wegen seiner Worte, die er mir entgegengeschleudert hatte, als ich ihn in meinem Heimatort wieder gesehen hatte. Ich konnte sehen, wie Wills Augen zu Schlitzen wurden. Wie er seine Hände zu Fäusten ballte. "Verräter.", flüsterte er bedrohlich leise. Ich konnte jetzt nicht auf Will achten. Ich musste weiter erzählen. "Er hat in einem Tagebuch von seinem Vorfahren gelesen.", führte ich meine Erzählung fort. "Cornelius Firelight." Bei diesem Namen verfinsterten sich die Gesichter meiner Familie. Der Name war ihnen nicht unbekannt. "Ich ... Ich habe mitgelesen und erfahren, dass ..." Ich verstummte. Ich war mir nicht mehr so sicher, ob ich es auch wirklich erzählen wollte. Doch allein weil Desdemona hier war, durfte ich jetzt nicht aufhören. Sonst würde sie das womöglich noch für mich übernehmen. Und das wollte ich auf gar keinen Fall.
"Was?", harkte Will nach. "Was hast du erfahren?"
Ich schluckte und mein Blick glitt über die neugierigen Gesichter meiner Familie. Das mit dem, was in dem Tagebuch stand war nicht das einzige, was ich noch zu erzählen hatte. Die Frage war nur, würden sie mir weiter zuhören, nachdem ich ihnen offenbarte, was ich gelesen hatte? "Die Familien Eclipse und Lunar waren anders.", entschied ich mich es so zu formulieren. "Sie waren mächtiger als die anderen und stammten von Wesen ab, die es heute nicht mehr geben sollte." Ich sah in verwirrte Gesichter. "Doch diese Gene von diesen Wesen, sie sind nicht verschwunden." Ich verstummte kurz, blickte zu Boden, ehe ich wieder aufsah und mit fester Stimme sagte: "Ich habe sie geerbt." Um es ihnen verständlich zu machen, was ich mit diesen Worten eigentlich meinte, entblößte ich ihnen meine Eckzähne. Ich verbot es mir über das was ich tat nachzudenken. Ich tat es einfach. Brachte es hinter mich. Nervös betrachtete ich meine Familie, die fassungslos auf meine Eckzähne starrte. Ich konnte sehen, wie sie sich allesamt merklich anspannten. Um dem ganzen noch die Krone aufzusetzen, ließ ich meine Augen einmal kurz wie die Sonne erstrahlen und danach blutrot verfärben, ehe sie wieder zu meinen gewohnten Farben wechselten. Ich blickte in weit aufgerissene Augen. Will und Arthur stand der Mund offen. Arthurs Zeitung segelte langsam auf den Boden, ehe sie leise auf dem Fußboden aufkam und anschließend reglos dort liegen blieb. Arthur machte keine Anstalten, sie wieder aufzuheben. Ich spürte Desdemonas Hand, die meine leicht drückte. Sie stand hinter mir. Sie würde es immer tun. Und das gab mir Halt. Egal wie viele sich gegen mich stellen würden. Egal wie viele mich hassen würden. Desdemona würde zu mir halten. Sie war eine richtige Freundin.
Mit ihr würde ich alles überstehen. Allein weil sie mich zum Bleiben zwang.
Es kam mir vor, als hätte meine Familie die Luft angehalten. Als sie noch immer nicht reagierten, entschied ich mich dazu, es zu ignorieren und erzählte einfach weiter. "Bei meiner Pflegemutter blieb ich nicht lange, da dort so eine Art Elementary Polizei auftauchte." Ich erzählte nicht von der Szene im Wald, wo Damon wieder auftauchte. Ich erzählte direkt vom Darkstone Internat und wie ich auf Desdemona traf. Ich schaute dabei niemandem in die Augen, weil ich es nicht ertragen konnte, ihre noch immer erschrockenen Gesichter zu sehen. Wie ätzend Desdemona am Anfang gewesen war erzählte ich nicht. Auch wenn Desdemona es mir nicht übelnehmen würde, wenn ich es tat. Ich kam schnell zu dem Punkt, an dem Desdemona und ich uns entschieden, Ariadne helfen zu wollen und wie wir uns mit Liam auf den Weg nach London machten. Kurz fasste ich unseren Londoner Aufenthalt zusammen und wie wir wieder zurück zum Internat fuhren und Ariadne ihre Geschwister wieder traf. Anschließend kam der letzte Teil. Und zwar, wie Liam nur die halbe Wahrheit erfuhr, weil er nicht mehr wissen wollte, als er für nötig hielt. Natürlich musste ich auch Claires Geist erwähnen. Das ließ sich nicht vermeiden, denn es war nicht ganz unwichtig. Ich äußerte meine Vermutung, dass Claires plötzliches Auftauchen wohl mit meiner Hexenseite zusammen hing. Enden tat ich mit dem Moment, indem ich mich in Luft aufgelöst hatte. Auch als ich endgültig mit meiner Erzählung geendet hatte, wagte ich es nicht, aufzusehen. Ich war verstummt und sagte kein Wort mehr. Meinen Blick hielt ich auf meine Hände gesenkt, die sich auf meinem Schoß zu Fäusten verkrampft hatten. Dafür hielt Desdemona für mich Blickkontakt. Sie sah jedem Mitglied meiner Familie ohne Scham für einige Sekunden in die Augen, ohne auch nur einmal zu blinzeln. Jeder, dem sie in die Augen sah, senkte nach ein paar Sekunden seinen Blick. Ihr Blick ernster, leicht verurteilender Blick war ihnen unangenehm. Sie versanken in ihren eigenen Gedanken. Das konnte ich ihnen ansehen. Sie dachten über all das nach, was ich ihnen gerade anvertraut hatte. Der erste, der reagierte, war Will.

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