Kapitel 58 - Kellererinnerungen

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Abwartend sah er mich an. Er wollte das wohl direkt jetzt klären. Also erhob ich mich von dem Sessel. Sofort tat Desdemona es mir gleich, doch Liam schüttelte seine Kopf.

"Das ist etwas zwischen ihr und mir, Desdemona.", sagte Liam. "Also lass uns das bitte alleine klären." Widerwillig ließ Desdemona sich zurück in ihren Sitz sinken. Wortlos reichte Theodor ihr seinen zweiten Controller, den Desdemona ihm ohne einen Ton zu sagen abnahm und nun genau wie Theodor begann, gebannt auf den Bildschirm zu starren und auf die Knöpfe zu drücken. Liam warf Desdemona noch einen kurzen Blick zu, ehe er als erstes das Zimmer verließ und mir die Tür aufhielt, ehe er sie hinter mir wieder schloss. Ein mulmiges Gefühl kam in mir auf. Es war als würde mein Magen sich zusammenziehen. Was sollte schon geschehen? Das schlimmste was passieren konnte war, dass er mich nur noch mehr hassen würde und vielleicht verraten würde. Ein Risiko, das ich eingehen konnte. Immerhin konnte ich danach von hier verschwinden und unter einem anderen Namen und einem anderen Aussehen hier her zurück kehren. Ohne, dass es irgendwer merken würde.

Schweigend lief ich Liam hinterher, der mich irgendwohin führte, wo wir hoffentlich ungestört waren. Die Korridore waren menschenleer. Mit der Ausnahme eines Lehrers, der gelassen an uns vorbei schlenderte. Der leere Gang versank vor uns immer tiefer in der Dunkelheit. Die Sonne stand bereits tief am Himmel. Der Duft der aufkommenden Nacht umhüllte mich und unwillkürlich sog ich ihn ein. In meiner Kehle bemerkte ich nun auch das leichte Brennen, das bereits seit einigen Minuten wieder präsent war, aber sich erst jetzt wirklich bemerkbar machte. Unruhig sah ich zu Liam. "Können wir bitte in die Küche gehen.", bat ich ihn und hoffte, dass er mich nicht verurteilen würde oder angewidert wäre. Etwas erstaunt blieb er stehen und sah mich kurz an, ehe er schließlich nickte. "Gut.", stimmte Liam zu. "Dort werden wir wahrscheinlich nicht unterbrochen." Er war einen kurzen Blick auf die Uhr an seinem Handgelenk. "Die Glacials werden wohl auch nicht mehr dort sein, denke ich.", meinte er. "Sie wollen sich lieber sicher bei Ariadne im Zimmer aussprechen." Ich nickte bloß und schwieg. Ohne ein weiteres Wort zu wechseln setzte  wir unseren Weg fort.

An mögliche Folgen wollte ich überhaupt nicht denken. Was wäre, wenn Liam akzeptierte was mit mir war, aber nicht, dass ich Blut trank. Denn das würde ich vor seinen Augen tun müssen, wenn ich mir sicher sein wollte, dass nicht passierte. Das Brennen in meiner Kehle wurde stärker. Unwillkürlich rieb ich mir meine Kehle. Liam quittierte diese Geste mit einem Stirnrunzeln.

Würde ich in Liams Gegenwart Blut trinken, würde es das, was ich ihm sagen würde realer machen. Worte konnten nicht immer dabei helfen, etwas zu verstehen.

Wir erreichten die Kerker und ohne große Anstrengungen fanden wir den Weg in die Küche. Wieder einmal war ich von den unterirdischen Kellergewölben fasziniert. 
In der Küche zog Liam zwei Stühle zur Seite und forderte mich mit einer Handgeste dazu auf, mich zu setzen. Still ließ ich mich auf den alten Stuhl sinken, dessen Holz unter mir gefährlich knarzte. Liam setzte sich auf den Stuhl mir gegenüber und verschränkte seine Arme vor seiner Brust.

"Also ...", versuchte er einen Anfang zu finden und sah mich ratlos an. "Ich weiß nicht was ich von dir halten soll. Einerseits bist du eine Mörderin. Aber andererseits scheint Desdemona dir trotzdem zu vertrauen." Er seufzte und sein Blick schweifte durch die Luft, ehe er ihn wieder mir zuwandte. Aufregung machte sich in mir breit. Ich konnte mich gerade noch dagegen wehren, unruhig mit meinen Füßen zu wippen. Liam blieb das nicht unbemerkt, doch glücklicher Weise ignorierte er das. "Ich möchte gerne deine Geschichte hören. Deine ganze Geschichte.", fuhr er fort und musterte mich eine Weile. "Wäre es jetzt nicht angemessener deine eigene Gestalt anzunehmen, Mika?"

Ich konnte ihn nur erstaunt anstarren. Das hatte ich nicht erwartet. Überhaupt nicht. Obwohl, so abwegig war das nun auch nicht gewesen. Langsam ließ ich die Maske von Lune James fallen und offenbarte Liam meine eigentliches Selbst. Stumm betrachtete er mich. Scheinbar wusste er nicht so ganz wie er sich mir gegenüber zu verhalten hatte. Ich konnte ihm die Nervosität und die Unruhe nur zu deutlich ansehen.

"Du kannst jetzt anfangen zu erzählen.", forderte Liam mich ziemlich unbeholfen auf und setzte sich ein wenig aufrechter hin, wobei er ein wenig sein Kinn anhob, um seine Unsicherheit zu verstecken.

"Kann ich es dir auch zeigen?", fragte ich vorsichtig und meine Finger umschlossen das Holz des Stuhles, während ich ein wenig auf meinem Sitz herum rutschte. Verwirrt sah Liam mich an. "Zeigen?", wiederholte er. Ich nickte, woraufhin Liam mit seinen Schultern zuckte. Das bedeutete wohl, dass er nicht so ganz verstand, was ich mit "zeigen" meinte. Egal. Er würde es gleich wissen. Außerdem würde es mir einiges einfacher machen. Anstatt die richtigen Worte zu finden konnte ich ihm auch einfach direkt alles zeigen, sodass er sich seine eigene Meinung bilden konnte, als wenn ich es mit Worten versuchen würde, die eher dazu neigten, ihn auf meine Seite zu ziehen.

Ich atmete einmal tief ein und anschließend wieder aus. "Okay.", sagte ich. "Bitte erschrick dich nicht. Ja?" Ehe Liam auch nur irgendetwas sagen konnte, war ich auch schon in seinen Geist eingedrungen. Es war mir, als würde ich ins Wasser eintauchen, als mein Geist in den von Liam drang. Ich bemerkte, wie Liam krampfhaft zusammenzuckte. Doch ansonsten regte er sich nicht. Vorsichtig begann ich einige meiner Erinnerungen in seinen Kopf zu schieben. Still starrte Liam vor sich hin. Es wirkte so als sei er nicht wirklich anwesend. Und das war er irgendwie auch nicht wirklich. Er betrachtete vor seinem geistigen Auge gebannt die Erinnerungen, die ich ihm zeigte.

Nach und nach schob ich weitere in seinen Kopf. Von dem Moment an, an dem ich erfuhr, dass meine Mum nicht meine Mum war, wie ich Damon, Claire und Will kennenlernte, bis hin zu ihrem Tod. Bis jetzt hatte Liam noch keinen Ton gesagt und auch noch keine Anstalten gemacht, vor mir davon zu laufen. Er schien den ersten Teil zu verkraften. Doch was war mit dem zweiten Teil?

Nun war ich dabei Liam meine Erinnerungen an das Jägertagebuch zu zeigen. Skeptisch beobachtete ich ihn. Wartete auf eine Reaktion. Und ich brauchte nicht sehr lange zu warten. Ich sah wie sein Körper sich anspannte. Wie seine Hände sich zu festen Fäusten ballten und ich konnte mir gut vorstellen, dass er innerlich darum kämpfte ruhig sitzen zu bleiben. Er wollte sich alles ansehen. Bis zum Schluss. Und so lange musste er nun einmal durchhalten. Ich hoffte. Ich hoffte so sehr, dass Liam mich am Ende nicht hassen würde. Freunde hatte ich selten welche gehabt. Zwar wusste ich nicht, ob ich Liam dazu zählen konnte, doch das würde sich ja bald herausstellen.

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