Prolog - Einige Jahre zuvor ✅

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Es war Dezember. Die Bäume hatten ihre Blätter schon längst abgeworfen und gaben sich der eisernen Kälte hin, die der Winter mit sich brachte. Vereinzelt zierten weiße Flecken die Umgebung.
Es war tief in der Nacht. Alles schlief. Fast alles. In einem Haus in einer langen Straße schien in einem Fenster noch dämmriges Licht. Dort saßen eine Frau und ein Mann gemeinsam an einem Tisch, dem man sein Alter schon ansah. Generell wirkte das Zimmer eher älter.

Es schien nicht so, als seien die Besitzer oft Zuhause. Der Mann und die Frau wirkten beunruhigt und blickten immer wieder nervös aus dem Fenster, wo sie so gut es ging die Vorhänge zugezogen hatten. Die Angst stand ihnen ins Gesicht geschrieben. Ebenso die Zweifel, ob das, was sie vorhatten auch wirklich kein Fehler war.

»Sie werden sie jagen. Das weißt du.«, sagte eine Frau. Ihre Stimme zitterte. »Uns jagen sie schließlich auch.« Beide blickten bedrückt auf den Stuhl in ihrer Mitte. Dort, in einem Babysitz, lag ein kleines Mädchen. Es war circa zwei Monate alt. »Sie werden unsere Familie nicht in Ruhe lassen.«, sagte die Frau, während sie ihre Tränen unterdrückte. »Wir müssen sie schützen.« Liebevoll blickte sie zu dem kleinen Kind. »Das alles muss endlich ein Ende finden.«, fügte sie noch leise hinzu. Auf einmal hatte sich ihre Stimme verändert und der Mann konnte nicht sagen, was daran ihm nicht gefiel. Ohne seines Wissens formte sich im Kopf seiner Frau bereits ein Plan.

Gequält seufzte er. »Ich weiß. Aber wie? Es scheint mir, als würde das ewig so weiter gehen.«, murmelte er leise. Gequält massierte er sich die Schläfe. Unter seinen Augen lagen tiefe Augenringe. Wann einer der beiden zuletzt geschlafen hatte, war nicht zu sagen. »Und wir sind nicht dazu in der Lage, dem ein Ende zu bereiten.« Er wandte seinen Blick wieder nervös dem Fenster zu. Somit entging ihm der Blick der Frau. Dieser war ganz gedankenverloren. »Ach. Sind wir nicht?«, flüsterte sie kaum vernehmbar. Bitter schaute sie zu dem kleinen Mädchen. Irgendein Gedanke schien ihr zu kommen. Innerlich zerrissen kaute sie auf ihrer Unterlippe. Ob es ihr gefiel oder nicht, sie musste etwas unternehmen. Sie allein. Niemand würde ihr dabei helfen können. Es war ihre Bürde. Aber einen anderen Ausweg sah sie nicht. Es musste getan werden.
Plötzlich polterte es an der Tür. Die Eltern zuckten zusammen. Erschrocken blickten die Eltern auf, warfen sich bedeutungsvolle, von Furcht gezeichnete, Blicke zu. Waren sie so schnell gefunden worden? Dem Mann brach der Schweiß aus. Der Frau klopfte das Herz bis zum Hals.

»Sie sind da.«, sagte der Vater trocken. Er wusste, dass nun vielleicht sein Ende bevorstand.

»Ja.«, murmelte die Mutter und wagte es kaum, aufzusehen. Beide wussten, dass es nun an der Zeit war. Und für keinen von beiden war es einfach. Entschlossen atmete die Frau einmal tief ein. Sie würde es tun. Sie hatte eine Entscheidung getroffen.
»Macht auf! Wir wissen, dass ihr da seid!«, ertönte eine tiefe Stimme. »Kommt freiwillig, oder wir holen euch.« Die Eltern sahen sich schweigend an. Vielleicht war es das letzte Mal. Die Zukunft war erschreckend ungewiss. Dennoch unterdrückten sie ihre Angst.
»Ich versuch sie aufzuhalten. Nimm du Mika und rettet euch.«, sagte der Vater, während er noch einmal tief Luft holte und sich zu fassen versuchte. Dann drückte er seiner Frau und seiner kleinen Tochter einen Kuss auf die Stirn und ehe die Mutter etwas sagen konnte, hatte der Vater sich urplötzlich in Luft aufgelöst. Das Herz der Mutter klopfte wild, sodass sie glaubte, es würde ihr bei der nächst besten Gelegenheit aus der Brust springen. Sie blickte traurig zu der kleinen Tochter. »Ich bringe dich fort von hier, an einen Ort, an dem du sicher aufwachsen kannst.«, flüsterte die Mutter mit belegter Stimme dem kleinen Mädchen zu, das gerade mit den braun gefärbten Locken der Mutter spielte. Warme Tränen strömten ihr über die Wangen. Sie wusste, es würde wahrscheinlich für immer sein. Doch sie hatte keine Wahl. Es musste sein. Nicht nur für das Wohl des Kindes. Auch für das der Mutter. Außerdem konnte dem Kind so erst einmal ein normales und sicheres Leben garantiert werden. Zumindest für eine Weile. Bis es so weit war und sich die Gelegenheit bot, ihr Schicksal ein für alle mal zu verändern.
Die Mutter und die Tochter begannen sich, wie der Vater zuvor, in Luft aufzulösen und waren verschwunden.

Weit entfernt tapste eine Frau in ihr dunkles Wohnzimmer, auf dem Weg in die Küche, um sich ein Glas Wasser zu holen. Kurz rieb sie sich über die müden Augen.

Sie wusste nicht, was sie aus ihrem tiefen Schlaf geweckt hatte, dennoch wollte sie die Gelegenheit nutzen, um ihrer trockenen Kehle etwas Gutes zu tun. Mitten in dem Wohnzimmer, das bei Nacht ganz anders wirkte, blieb sie auf einmal stehen.
Etwas war nicht, wie es sein sollte. Verwirrt runzelte sie die Stirn. Sie war zu müde. Dennoch konnte sie sich auch nicht einfach abwenden. Blinzelnd wanderte ihr Blick durch den Raum. An einem Korb, blieb er hängen. Dieser stand auf ihrem Wohnzimmertisch und sie war sich sicher, dass sie ihn dort nicht hingestellt hatte. Zumal sie einen solchen Korb gar nicht besaß. Misstrauisch näherte sie sich dem Tisch. Plötzlich wieder hellwach.

»Was soll das denn?«, fragte sie sich leise. Sie konnte sich das nicht erklären. Vorsichtig sah sie sich noch einmal um, wobei ihr der Schatten in der Ecke des Raumes entging. Mit klopfendem Herzen riss sie sich zusammen und spähte in den Korb. Zuerst konnte sie bis auf einer Decke nichts Ungewöhnliches erkennen. Bis die Decke sich auf einmal zu bewegen begann. Erschrocken schnappte sie nach Luft und wich zurück. Was sollte das? Was war das?

Ihr Atem ging hektisch, als sie kurz die Augen schloss, leise etwas vor sich hin murmelte und sich wieder in die Nähe des Korbes wagte. Als ihre Hand langsam in die Nähe der Decke wanderte, hielt sie die Luft an. Schließlich umschlossen ihre Finger die weiche Decke und sie riss sie weg.

Fassungslos weiteten sich ihre Augen. Was sollte das bedeuten? Sie konnte es sich nicht erklären. Hektisch wanderte ihr Blick erneut durch das Wohnzimmer und erneut übersah sie den wartenden Schatten.

Sie musste sofort zur Polizei! Hier konnte etwas nicht mit rechten Dingen zugehen! Noch immer entgeistert starrte sie auf das kleine Baby, das seelenruhig im Korb schlief. Und auf einmal bemerkte sie den zusammengefalteten Zettel, der neben den Kopf des Babys gerutscht war. Eine ungute Vorahnung beschlich sie. Sie zwang sich zur Ruhe. Was auch immer hier vorging, sie wollte es wissen. Womöglich konnte ihr dieser Zettel dabei helfen. Ohne das Baby zu berühren, griff sie nach dem Zettel. Es knisterte leise, als sie ihn entfaltete. Eine säuberliche Schrift sprang ihr ins Auge, die ihr merkwürdiger Weise bekannt vorkam. Doch sie konnte sich nicht erinnern, woher sie diese Schrift kannte. Und das würde sie auch nie.

Es tut mir Leid, Sie damit zu überraschen. Vermutlich fragen Sie sich, was ein kleines Kind in einem Korb in ihrem Wohnzimmer macht.
Ihr Name ist Mika und sie ist heute auf den Tag genau zwei Monate alt. Wir können sie nicht bei uns behalten, da sie bei uns nicht sicher wäre. In unserer jetzigen Situation sind wir nicht in der Lage, sie aufzuziehen. Ich bitte Sie, Mika wie Ihre eigene Tochter aufzuziehen. Ich vertraue sie Ihnen an, da ich weiß, dass Sie wie Ich ein Elementar sind.

Die Frau las sich den Brief einige Male durch, um auch wirklich zu realisieren, was da stand. Anschließend sah sie dann das kleine Mädchen resigniert an. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Sollte sie die Polizei wirklich einschalten? Irgendetwas sagte ihr, dass die Sache ziemlich ernst war.

Was sie nicht wusste war, dass der Schatten sie eingehend musterte. Jede Regung fiel ihm auf. Und er würde eingreifen, wenn diese Frau nicht so handelte, wie er es wollte. Als sich die Frau wieder dem Baby näherte, spannte sich der Schatten an. Doch sie strich dem schlafenden Baby nur einmal sanft über den kleinen Kopf. Ihr Blick war nachdenklich und unsicher. Tiefe Furchen bildeten sich auf ihrer Stirn. Dennoch entspannte sich der Schatten nun. Er wusste, wie diese Frau sich entschieden hatte, noch bevor sie selbst es wusste. Mit einem letzten Blick auf das schlafende Kind, löste sich der Schatten schweren Herzens in Luft auf und überließ dessen Zukunft der überforderten Frau.

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