Kapitel 30.2 - Desdemona MacKenzie

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In ihrem Augen konnte ich so etwas wie Respekt aufblitzen sehen. Ich wandte mich wieder von ihr ab.

"Hey, ich rede noch immer mit dir!", sagte sie und ihr grüner Blick schien mich wortwörtlich zu durchbohren.

"Ich aber nicht mit dir."

Ein Grinsen zog sich auf ihre Lippen. "Vielleicht bist du ja doch nicht so scheiße, wie ich dachte."

Ich zog skeptisch die Augenbraue hoch. "Ach ja? Nur weil ich eine Ghost bin?"

Sie schüttelte rau lachend ihren Kopf. "Nein. Intuition."

Ich verstand sie wirklich nicht. In einem Moment hasst sie mich noch und im anderen glaubt sie, ich sei "doch nicht so scheiße". Konnte die sich mal entscheiden?

"Ich habe wohl keinen so guten Eindruck auf dich gemacht.", stellte sie fest.

"Überhaupt nicht.", stimmte ich ihr zu. Es war mir egal, ob es sie nun verletzte oder nicht. Denn ich glaubte, es würde ihr ziemlich egal sein.

"Du bist ja nicht sehr einfühlsam, was?", sagte sie grinsend.

"Nicht für dich." Sie nervte mich einfach mit ihrer Art. Zudem verwirrte sie mich. Kurz gesagt, ich hatte keine Lust, mich mit ihr zu unterhalten.

"Wow, nun mach mal langsam, kleine Ghost!" Sie grinste immer noch.

Wütend sah ich sie an. "Nenn mich nicht so!"

Provozierend grinste sie mich an. "Und wenn doch?" Doch dann erlosch ihr Grinsen. "Was hast du denn da?" Ihre Stimme war ein wenig leiser. Sie erhob sich von ihrem Bett und kam langsam auf mich zu. Sie starrte die Narbe an, die meine rechte Gesichtshälfte zierte. Es war mir ein Wunder, dass sie die Narbe erst jetzt bemerkte, denn eigentlich war sie ziemlich auffällig.

Sie kam näher, bis sie schließlich meine Narbe perfekt betrachten konnte. Nun wirkte sie so, als hätte es ihr die Sprache verschlagen. Ich fragte mich, ob so was bei ihr jemals vorkam.

"Woher ...?"

"Jäger.", war das Einzige, was ich sagte. Mehr brauchte es dazu nicht. Es reichte vollkommen aus.

Desdemona MacKenzie wurde ganz bleich. Bleicher, als sie es schon war. "Jäger." Sie spuckte das Wort voller Hass und Abscheu aus.

Sie wandte ihren Blick von meiner Narbe ab und ging wieder zu ihrer Zimmerhälfte. "Weißt du, du bist okay."

"Ach und wie kommst du jetzt darauf? So plötzlich?" Herausfordernd musterte ich sie.

Sie drehte sich wieder zu mir um und ich entdeckte wieder ein Grinsen auf ihren Lippen. "Als du auf einmal durch die Tür kamst, hatte ich wirklich keinen Bock auf dich. Ich hatte noch nie eine Mitbewohnerin und ich brauche auch keine. Du siehst so ... brav aus, mit deinen blonden Haaren und so ... Also normal siehst du zwar nicht ganz aus, ich meine, deine Haare sind silberblond und deine Augen sind verdammt noch mal giftgrün!"

Ich musste mich zwingen, nicht sarkastisch aufzulachen. Sie durfte meine Eckzähne nicht sehen. "Ich bin alles. Aber ganz bestimmt nicht brav!" Es erschauderte mich, als ich an die Morde zurück dachte. Wie lange würde es dauern, bis sie mich hier fanden?

MacKenzies Miene wurde ernst. "Du hättest einen Angriff der Jäger nicht überlebt, wenn du nicht etwas drauf hättest und keinen Mut hättest. Vertrau mir in diesem Punkt."

Ein Schweigen legte sich über das Zimmer. Irgendetwas war ihr in der Vergangenheit passiert. Und die Jäger waren daran nicht unschuldig. Irgendetwas bedrückte sie. Vielleicht war sie auch von Jägern angegriffen worden? Wahrscheinlich.

Sie schüttelte sich einmal, als würde ihr ein kalter Schauer über den Rücken kriechen. "Komm. Es gibt bald Essen. Es ist schon spät." Sie lief in Richtung Tür und drehte sich dann zu mir um. "Kommst du?"

Ich erhob mich und folgte ihr. Vielleicht war sie doch nicht so scheiße. Dabei zitierte ich sie mal. Als wir auf dem Flur waren, schloss MacKenzie unsere Zimmertüre ab und ließ den Schlüssel in ihrer Hosentasche verschwinden. Ich vernahm schon ein paar Stimmen und Türen, die zugeknallt wurden.  

Plötzlich strömten aus ihr wieder diese Schatten und krochen den Flur entlang. "Was tust du da?", fragte ich.

Sie lächelte. "Die Flure und Treppen werden gleich ziemlich voll sein. Es wird ein ziemliches Gedrängel geben. Ich hasse Gedrängel."

"Und wie sollen deine Schatten davon abhalten?"

"Wirst du schon sehen.", war ihre einzige Antwort.

Und sie sollte recht behalten. Es wurde ziemlich voll, doch niemand lief dort, wo Desdemonas Schatten krochen. Sie schienen auf keinen Fall in Berührung mit ihnen kommen zu wollen.

Doch ich erblickte einen Jungen, geschätzte siebzehn oder achtzehn, schwarzes Haar, dunkle Haut, kalte grüne Augen. Der schien ziemlich genervt von dem Gedrängel, fluchte ununterbrochen und schob die anderen von sich weg. Er wollte eine Gruppe überholen, wobei er mit Desdemonas Schatten in Berührung kam. Sofort schrie er vor Schmerz auf und sprang zurück. Wütend glitt sein Schmerz durch die Menge.

"DESDEMONA, VERDAMMT! WENN ICH DICH IN DIE FINGER KRIEGE!"

Doch ehe er weiter nach ihr suchen konnte, drückte die Menge ihn weiter. Leise fluchend ging er weiter.

Ich blickte zu ihr. Ihre Miene war finster und kalt. "Wehe, der nennt mich auch nur noch einmal so!"

Beides waren Drohungen. Einmal die des Jungen und einmal die von MacKenzie.

"Weshalb willst du eigentlich nicht so genannt werden?" Das interessierte mich nun wirklich. So schlimm war ihr Name nun auch wieder nicht.

"Das geht dich nichts an, ist das klar!", fuhr sie mich an.

Die hatte echt Stimmungsschwankungen. Den Rest des Weges redete sie überhaupt nicht mehr, was mir vielleicht auch ganz recht war. Ich wusste nicht, was ich nun von ihr halten sollte. Erst schien sie mich zu hassen, im nächsten Moment war sie okay und dann fuhr sie mich wieder an. Sie sollte sich wirklich mal entscheiden. Sonst würde ich für nichts garantieren können. Irgendwann würde ich wütend werden. Und das konnte unschön enden, da mir dann eigentlich alles egal war.

Wir erreichten einen großen Saal mit vielen Tischen und einem Buffettisch.

"Na sieh mal einer an, wenn das nicht Desdemona ist." Grinsend stand der große Junge von vorhin vor uns.

MacKenzie, die immer noch verdammt schlecht gelaunt von vorhin war, war die Wut anzusehen.

"Ich habe es dir schon so oft gesagt! Nenn mich noch einmal Desdemona und -"

"- Und was?", provozierte er, doch dann fiel sein Blick auf mich. "Wer ist das denn?"

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