Kapitel 58.2 - Kellererinnerungen

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Liam blieb ruhig. Er machte keine Anstalten sich zu rühren. Selbst dann nicht, als ich bereits aus seinem Geist verschwunden war. Angespannt knetete ich meine Hände und meine Augen blieben nicht länger als eine Sekunde ruhig an einem Punkt. Ich unterdrückte es nervös mit meinen Füßen zu wippen. Liam starrte nach wie vor ins Leere obwohl er wieder bei Bewusstsein war. Er wirkte wie erstarrt. Vielleicht musste er sich erst einmal wieder sammeln? Oder er überlegte wie er nun handeln sollte? Je mehr Zeit verstrich, desto nervöser wurde ich. Das Brennen in meiner Kehle trug nicht gerade zur Besserung bei. Aus dem Augenwinkel betrachtete ich den Kühlschrank, dessen Verlockung immer größer wurde. Ich wollte darauf zu stürzen, die Tür aufreißen und mit die rote Flüssigkeit in mich hinein schütten. In diesem Moment kam es mir vor wie mein Lebenselixier. Ich konnte mich gerade noch so beherrschen. Liams spürbare Angst machte es nicht besser. Sein Herz schlug schnell und pumpte sein Blut rasant durch seine Adern. Ich sah seine Halsschlagader pulsieren. Als ich bemerkte wie ich seinen Hals anstarrte, wandte ich meinen Blick beschämt ab. Ich konnte nur hoffen, dass Liam das nicht gesehen hatte. Es war mir unangenehm.

Nun hob Liam langsam seinen Blick. Vorsichtig sah er mich an als würde er jede Sekunde erwarten, dass ich aufspringen und ihn anfallen oder verfluchen würde. Diese Erkenntnis schmerzte ich. Obwohl er keinen Ton sagte, sagte seine Körpersprache schon alles. Wie er über mich dachte und was er mir zutraute. Es tat weh das zu wissen. Doch was hatte ich anderes erwartet? Am aller besten war es, niemandem mehr anzuvertrauen wer und was ich war. Es war nicht bloß für mich leichter. Und es würde mich vor Fehlern bewahren. Allein Liam hatte die Macht über mein Leben, meine Flucht oder meinen Tod zu entscheiden. Und das machte mir Angst. Vertrauen konnte zerstörerische Folgen haben.

Das Brennen in meiner Kehle war unausstehlich. Allein der Gedanke an Liams Reaktion hielt mich davon ab zum Kühlschrank zu sprinten und das Blut in mich hinein zu kippen. Ich wusste es war falsch. Ich sollte nicht verstecken was ich war, wenn es schon Leute gab, die es wussten. Wenigstens vor ihnen sollte ich mich nicht zurückhalten müssen. Vor Desdemona musste ich das auch überhaupt nicht. Aber vor Liam? Ich schluckte und versuchte das Brennen zu ignorieren.

Liam öffnete seinen Mund, doch kein Ton kam über seine Lippen. Seine Finger hatten sich in die Armlehnen seines Stuhls gekrallt und ich konnte ihm die Anspannung ansehen. Er schwieg. Und dieses Schweigen war tausendmal schlimmer als wenn er mich anschreien würde. Doch das tat er nicht. Er hielt sein eisernes Schweigen. Hielt es eine Ewigkeit. Ich hielt es nicht mehr aus. Ich würde nicht weiter hier herum sitzen und darauf warten, dass in Liam sich irgendetwas regte. Da konnte ich ewig warten. Oder genauso gut gehen. Letzteres tat ich auch. Ohne ein Wort zu sagen erhob ich mich, obwohl ich mir Liams plötzlicher Anspannung und seines argwöhnischen Blickes bewusst war. Ich kehrte ihm den Rücken zu. Ich müsste lügen, wenn ich sagte, es machte mir nichts aus.

Meine Augen visierten den Kühlschrank an. Ohne weiter auf Liam zu achten ging ich schnellen Schrittes auf das kühle Gerät zu, zog mit einem kräftigen Ruck die Tür auf und fand auf Anhieb ein weiteres rotes Fläschchen. Es gab mehrere davon. Sie lagen verteilt im gesamten Kühlschrank und wieder einmal fragte ich mich, weshalb es hier Fläschchen gefüllt mit Blut gab. Doch ich sollte es nicht in Frage stellen und einfach froh über die Tatsache, dass es das hier gab, sein. Meine bleiche Hand griff nach dem Fläschchen und ich öffnete es. Meine Hände zitterten als ich es zu meinen Lippen führte und meine Kehle brannte sehnsüchtig. Alles in mir schrie nach der roten, metallisch duftenden Flüssigkeit. Gierig trank ich. Sobald das Blut in meine Kehle rann, war es, als würde das Brennen betäubt werden. Betäubt, nicht verschwinden. Denn es würde niemals wirklich verschwinden. Den Rest meines Lebens über würde es immer und immer wieder auftauchen. In den unmöglichsten Momenten.

Natürlich blieb mir Liams entsetzter, angewiderter Blick nicht unbemerkt, mit dem er mich musterte. Er hatte seine Nase gerümpft, als er bemerkt hatte, dass sich in dem Fläschchen Blut befand. Doch das interessierte mich nicht. Noch nicht. Erst einmal war ich erleichtert darüber, dass das Brennen verschwunden war.

Ohne Liam weiter zu beachten ging ich mit zielstrebigen Schritten in Richtung Ausgang. Ich wollte bloß noch zurück. Zurück zu meiner besten Freundin, die mich tatsächlich von allen am besten verstand. Noch während ich durch die Tür ging wandelte sich mein Aussehen von Mika wieder zu Lune. Ich hatte gerade mal einige Meter zurück gelegt, als ich seine Stimme hörte. Ich vernahm das Kratzen seines Stuhles, den er beiseite schob und hörte die Geräusche seiner Schritte. "Mika!", rief Liam mir nach. "Mika, warte!" Als wäre nichts gewesen lief ich weiter. Ich wollte nicht weiter auf die Reaktionen der anderen angewiesen sein. Mein Leben hing nicht nur von den anderen ab. Auch von mir. Ich sollte aufhören zu glauben, es läge allein in der Hand der anderen. Wenn ich nicht sterben wollte, konnte ich es genauso gut mit Leichtigkeit selbst verhindern. Mein Leben lag in meiner Hand. Und ich würde es nicht hergeben. 

"Bitte!", fügte Liam nun noch hinzu und ich bemerkte, wie er stehen blieb. Ich atmete einmal tief ein. Noch dieses eine mal. Ich blieb stehen und drehte mich zu Liam um. Dieser war noch einige Meter von mir entfernt, doch diesen Abstand holte er ein. Vor mir blieb er stehen. "Es tut mir leid.", sagte er. "Es tut mir leid, dass ich dich die ganze Zeit so dazu drängen wollte mir dein Geheimnis zu sagen. Es tut mir leid, dass ich nicht aufgehört habe es wissen zu wollen. Vor allem nachdem wir einige Zeit zusammen verbracht haben, als wir auf der Suche nach Ariadnes Geschwistern waren." Er stockte und schien zu überlegen was er nun sagen sollte. Er knetete seine Hände und wippte von einem Fuß auf den anderen. Liam war nervös. Doch ich war erleichtert. Wenn er sich entschuldigte konnte es gar nicht so schlimm sein, wie ich es anfangs erwartet hatte. Ich fühlte mich leichter. Es war mir, als wäre eine unsichtbare Last von mir gefallen. Liam fuhr fort: "Es ... Die Wahrheit ist ziemlich gewöhnungsbedürftig. Und ehrlich gesagt weiß ich nicht ob ich dich nun fürchten soll oder ob ich noch weiter normal mit dir umgehen kann." Es schien Liam schwer zu fallen das zuzugeben. "Das Wissen um die Existenz von ... Das Wissen um die Rückkehr von ..." Liam verstummte erneut. Betreten starrte er auf den Boden. "Ich denke, du brauchst ein wenig Zeit, um das erst einmal ein wenig zu verdauen.", meinte ich und fuhr mir mit der Hand durch das nun wieder helle Haar. Liam nickte knapp und schweigend standen wir einander gegenüber.

Ja, Liam würde es erst einmal verdauen müssen. Aber ich glaubte nicht mehr, dass er mich hasste oder hassen würde. So war es mir jetzt nicht erschiene. Eher so, als würde er tatsächlich wollen, dass wir friedlich miteinander umgingen. Und das reichte mir.

"Ich sollte mich auch bei Desdemona entschuldigen.", stellte Liam fest und brach somit die Stille zwischen uns.

"Ja, das solltest du definitiv.", stimmte ich ihm zu und dachte an Desdemonas Gesichtsausdruck, als Liam nicht gerade freundlich mit ihr umgesprungen war. Im Moment schien es so als würde alles wieder halbwegs gut werden. Aber der Schein konnte trügen. Immerhin standen noch ein paar Gründe zwischen mir und einem guten Ende. Und einer davon war Ariadne.

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