Kapitel 77.2 - Die Ruhe vor dem Sturm

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Meine Familie setzte sich zu uns an den Tisch. Obwohl alle genau wussten, weswegen sie hier waren, wirkte jeder einzelne von ihnen gut gelaunt. Ausgelassen begannen sie alle zu reden.

Meine Mutter war die Einzige, die mich besorgt musterte. Sie saß neben mir und beugte sich leicht zu mir herüber. Alle waren viel zu beschäftigt, als dass sie es bemerkt hätten.
"Geht es dir gut?", wollte meine Mutter leise wissen. "Will hat uns alle schon eingeweiht.", fügte sie noch hinzu.
Ich zuckte mit meinen Schultern. "Ich denke schon.", meinte ich. "Mit den neuen Informationen komme ich klar, glaube ich."
Sie wirkte nicht sehr überzeugt. "Wirklich?", fragte sie. "Ich habe das Gefühl, dass dich irgendetwas bedrückt." Sanft sah sie mich an und lächelte aufmunternd. Ich wusste, sie würde mich damit in Ruhe lassen, wenn ich es vorziehen würde, ihr nicht alles zu sagen. Dazu kannten wir einander zu wenig. Noch immer waren wir wie Fremde. Fremde, die sich gut zu verstehen schienen. Und ich wusste, dass es sie ganz schön mitnahm. Schließlich war sie meine Mutter und ich ihre Tochter. Unsere Beziehung zu einander sollte anders sein. Doch sie wusste, dass sie zum Teil dazu beigetragen hatte, dass es so war. Immerhin hatte sie mich damals weggegeben.

Ich dachte an das, was uns allen bevorstand. Wir alle hatten vielleicht nicht mehr allzu viel Zeit miteinander.


"Ich habe Angst.", gestand ich meiner Mutter leise. "Vor morgen. Vor dem, was die Jägerin gesagt hat." Schweigend starrte ich auf mein Frühstück. "Und dann ist da noch die Sache von gestern." Ich hob meinen Blick und sah direkt in die Augen meiner Mutter, aus denen sie mich voller Mitgefühl betrachtete. "Aber ich glaube, darüber weißt du auch schon bescheid."
Ertappt lächelte sie peinlich berührt. "Ja.", sagte sie langezogen. "Das stimmt. Aber genau deswegen habe ich gefragt."

Sie seufzte, streckte ihre Hand aus und zog mir gedankenverloren ein loses Haar von meinem Oberteil. "Dir muss ich glaube ich nicht sagen, dass du manche von deinen Freunden vielleicht heute zum letzten mal sehen wirst.", sagte sie. "Was glaubst du, wie sich - zum Beispiel - Desdemona fühlt, wenn ihr im Streit auseinander gegangen seid und eine von euch morgen stirbt?"
"Willst du mir etwa ein schlechtes Gewissen einreden?", fragte ich mit skeptisch hochgezogenen Augenbrauen. "Wenn du wirklich über alles informiert bist, wüsstest du, dass sie sich unmöglich verhalten hat. Und jetzt soll ich auch noch auf sie zugehen?" Ich schüttelte ungläubig meinen Kopf. "Tut mir leid. Aber nein."
Meine Mutter seufzte erneut. "Ich weiß, ich weiß. Wie sie sich gestern dir gegenüber benommen hat ... Das war nicht in Ordnung. Und das habe ich auch nicht behauptet. Aber horche doch mal in dich hinein. Stell dir vor, ihr redet nicht mehr mit einander und klärt diese Angelegenheit nicht. Wie würdest du dich fühlen, wenn sie morgen stirbt?"

Bedeutungsvoll sah sie mich an. Sie wollte, dass ich mir ihre Worte durch den Kopf gehen ließ. "Du hättest, denke ich, Schuldgefühle. Ein schlechtes Gewissen. Wärst sehr traurig.", fuhr sie fort. "Ihr habt euch doch so gut verstanden. Klar, Desdemona hat einen Fehler gemacht. Einen schweren Fehler, der vielleicht dein Vertrauen in sie zerstört hat. Aber lass dir das alles nicht von einem Fehler kaputt machen." Meine Mutter verstummte, senkte ihren Blick und ich konnte ihr ansehen, wie sie innerlich mit sich rang. 
Und dann sagte sie: "Desdemona ist nicht Claire, Mika." Langsam hob sie wieder ihren Blick und betrachtete mich traurig. "Ich möchte doch nur, dass du glücklich bist. Du sollst nicht dein ganzes Leben lang traurig und unglücklich sein.", fuhr sie fort. "Ich weiß, dass wir uns noch nicht lange kennen und ich dich viel zu lange im Stich gelassen habe. Und vielleicht habe ich auch nicht mehr lange die Möglichkeit, für dich da zu sein. Ich kann auch nicht mehr viel für dich tun. Aber was ich tun kann, ist versuchen zu verhindern, dass du einsam bist. Du hattest es nicht immer leicht. Lass dir wenigstens etwas von der Last abnehmen, die auf deinen Schultern ruht."

Ihre Worte ließen mich schlucken. Ich wusste, dass sie Recht hatte und mir helfen wollte. Aber das war es nicht, was mir einen kalten Schauer über den Rücken laufen ließ. Es klang beinahe so, als ahnte meine Mutter, dass sie bald sterben würde.
Ich spürte, wie meine Augen plötzlich feucht wurden. Wieso dachte sie so etwas? Sie war vermutlich eine der stärksten Ghost Elementary. Ihre Chancen zu überleben standen mehr als gut!

"Du hörst dich wie eine Sterbende an, die ihren letzten Wunsch äußert oder eine letzte gute Tat verbringen will.", bemerkte ich. Meine Stimme zitterte leicht. Ein leichtes Lächeln zierte die Lippen meiner Mutter.
"Vielleicht.", gab sie leise zu. "Morgen wird ein schwerer Tag. Und wir alle müssen uns auf das, was passieren könnte vorbereiten. Ich tue das, indem ich versuche, dich nicht allein zurück zu lassen. Ich bin wahrscheinlich nicht die beste Mutter. Vermutlich auch nicht die Art von Mutter, die du dir gewünscht hast. Aber ich wollte immer nur das Beste für dich."

Tränen traten nun auch in die Augen meiner Mutter. "Damals, als ich dich weggegeben hatte, wollte ich, dass du in Sicherheit bist. Dass du eine unbeschwerte Kindheit hast und wohlbehütet aufwachsen kannst. Ich hätte dir das alles nicht bieten können. - Glaub mir, es war unfassbar schwer für mich, diese Entscheidung zu treffen. - Doch ich habe versagt und ich habe dich in eine gefährliche Welt hineingezogen, die es nicht immer gut mit dir meint."

Mittlerweile liefen ihr einige Tränen über die Wange, die sie mit ihrer Hand wegwischte. "Auch wenn ich noch einmal die Chance hätte, es anders zu machen ... Ich hätte nichts anders gemacht. Zu oft haben uns die Jäger gefunden. Und zu oft sind wir ihnen nur knapp entkommen." Ein tiefes Seufzen war zu hören. "Stärke ist nicht alles, Mika. Selbst die stärksten und fähigsten Elementary sind nicht unsterblich. Und irgendwann endet die Zeit für jeden Elementary. Entweder man kann das ignorieren und fürchten, oder es einfach akzeptieren. Mehr Möglichkeiten haben wir nicht."
"Aber du redest so, als wärst du dir schon sicher, dass du morgen sterben wirst.", sagte ich.
"Ich bereite mich bloß auf das vor, was passieren kann.", meinte meine Mutter. "Ich bin bereit für unsere Sache zu sterben, oder zu leben. Je nach dem."

Nach dem sie das gesagt hatte, schwiegen wir beide. Es entsetzte mich, wie sie auf den morgigen Tag blickte. Wenn sie schon so dachte, hatte sie dann nicht bereits verloren? Wenn sie schon glaubte, dass der Tag so für sie ausgehen könnte ... Würde sie dann nicht weniger um ihr Leben kämpfen, als sie es tun würde, wenn sie auf jeden Fall vermeiden wollte, dass sie ihr Leben ließ?
Es klang so, als hätte sie sich bereits mit ihrem Schicksal abgefunden. Dabei lag es doch allein an ihr selbst. Mich ärgerte es, wie sie darüber dachte. Doch ich sagte nichts. Es hätte doch sowieso nichts gebracht.

"Bitte rede mit Desdemona.", wechselte meine Mutter das Thema. "Soweit ich gehört habe, ist sie doch schon auf dich zugegangen."
Ich schnaubte empört. "Hat sie dich etwa dazu angestiftet, dass du mich überredest, mit ihr zu reden?", fragte ich leicht wütend. "Sie hat sich kurz entschuldigt. Ja, genau. Sie hat ja schon so viel dazu beigetragen!"
"Mika ...", seufzte sie. "Der Wille zählt."
Ich schüttelte meinen Kopf. "Der Wille allein reicht allerdings nicht.", entgegnete ich.
Klar, ich verstand, weshalb sich meine Mutter einmischte. Sie wollte bloß helfen. Auf sie müsste ich eigentlich auch gar nicht wütend sein. Eher auf Desdemona, die zu feige war, um richtig mit mir über die Geschehnisse zu sprechen. So feige, dass sie meine Mutter mit hier rein zog.
Mir war die Lust mit meiner Familie zusammen zu sitzen vergangen. Auch das Gespräch mit meiner Mutter über das Sterben hatte dazu beigetragen.
"Ich gehe auf mein Zimmer.", informierte ich alle am Tisch knapp, erhob mich und ging in Richtung Tür. Doch so weit kam ich gar nicht. Auf halbem Wege blieb ich wie angewurzelt stehen, starrte mit vor Überraschen geweiteten Augen ungläubig auf die Person, die mitten im Türrahmen stand.

"Hanne?", rief ich entgeistert aus.

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