Kapitel 78.3 - Der Sturm

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Mein Angreifer schien wohl nun zu bemerken, dass er nicht seinen gewünschten Effekt bekommen hatte und irgendetwas ganz und gar  nicht stimmte.
Doch sein Zögern verschlimmerte seine Situation nur. Statt mich weiterhin mit seinen Flammen zu attackieren und mich vielleicht zu schwächen, gab er mir Zeit, mich wieder zu fassen. Außerdem hatte er bereits sein eigenes Todesurteil unterschrieben. Niemand würde ihn mehr retten können.

Als ich mich umdrehte, erstarrte mein Angreifer. "Scheiße!", stieß er aus, zog sein Schwert aus der Schwertscheide und ließ es in Flammen aufgehen. Die lodernden Flammen wurden von dem spiegelglatten Metall, aus dem das Schwert geschmiedet war, reflektiert. Schnell kam der Jäger auf mich zu und die flammende Klinge surrte durch die Luft. Rechtzeitig duckte ich mich und wich einen Schritt zurück. Fluchend setzte der Jäger zum nächsten Hieb an. Doch so weit ließ ich ihn gar nicht erst kommen. Meine Augen streiften die seinen und schon befand ich mich in seinem Unterbewusstsein. Bevor der Jäger überhaupt begriff, was los war, lag er regungslos am Boden. Sein Schwert neben ihm. Das Feuer sprang auf die Wiese über und setzte blitzschnell einen relativ großen Bereich in Brand.

Bevor ich allerdings darüber nachdenken konnte, ob ich das Feuer nicht lieber ersticken sollte, nahm mir eine kleine Jägerin die Entscheidung ab. Mit einem lauten Kampfschrei warf sie sich auf mich und rammte ein kleines, aber scharfes Messer in meine rechte Seite. Schmerzvoll sog ich die Luft ein und verbot es mir zu schreien. Den Gefallen wollte ihr ihr nicht machen. Meine Hand schoss nach vorne. Ich wollte sie am Genick zu packen kriegen, doch die kleine Jägerin war viel zu wendig und schnell. Sie war vielleicht ein paar Jahre älter als ich. Ihr Haar hatte sie zu einem hohen Pferdeschwanz zusammengebunden, damit es sie während des Kampfes nicht störte und ihr die Sicht versperrte.

Zusätzlich erschwerte sie es mir, sie in die Finger zu bekommen, indem sie ihre Hand auf mein Gesicht richtete und mir kochend heißes Wasser in mein Gesicht schoss. Die Hitze schien mich zu verbrühen. Dieses mal konnte ich mir einen schmerzerfüllten Schrei nicht verkneifen. Zumal sie meine Augen getroffen hatte. Es war schlimmer, als in eine zu heiße Dusche zu steigen. Genauso schlimm wie das Feuer, das meinen Rücken getroffen hatte. Strategisch gesehen, war die Auswahl ihres Zieles natürlich perfekt. Genau ins Gesicht und auch noch in die offenen Augen. Ich blinzelte wie wild. Eigentlich hatte ich dabei sogar noch Glück gehabt. Nur ein paar ihrer kochend heißen Wassertropfen hatten ihren Weg in meine Augen gefunden, bevor ich sie reflexartig geschlossen hatte.

Es reichte mir! Sie hätte mich gar nicht erst treffen dürfen. Ebenso der Jäger mit dem Feuerball. Außerdem hatte sie mich bereits zweimal getroffen. Die Stichwunde schmerzte bei jeder Bewegung, doch durch das kochende Wasser, das mein Gesicht zu verbrühen schien, war sie beinahe in Vergessenheit geraten.

Wütend zog ich mich ein wenig zurück. Ich würde es auf eine andere Weise versuchen. Die kleine Jägerin war viel zu schnell und wenig, als dass ich sie mit bloßer Hand erwischen könnte. Also zwang ich mich, ruhig stehen zu bleiben. Beobachtete die Jägerin, die weiterhin keine Sekunde wagte, stehenzubleiben.  Auf diese Weise konnte ich keine Treffer landen. Jedenfalls nicht physisch. Psychisch allerdings schon. Es war nur ein kleiner Moment, indem sich unsere Blicke streiften. Ein Bruchteil einer Sekunde. Doch dieser Bruchteil reichte schon aus. Schreiend vor quälenden Schmerzen warf sich die kleine Jägerin auf den Boden. Schrie und hörte nicht mehr auf. Anders als die anderen, widerstand sie dem länger. Sie war nicht gewillt, aufzugeben und sich den Schmerzen, wie auch dem daraus resultierendem Tod hinzugeben.

Das musste ich ihr lassen. Geistig war sie stark. Beinahe wie Damon. Der hatte sich auch wehren können. Allerdings wusste ich nicht, wie er sich gehalten hätte, hätte ich mit ihm das selbe gemacht, wie mit der kleinen Jägerin. Sie schrie und schrie immer weiter. Sie kämpfte dagegen an. Wollte nicht untergehen. Und das tat sie auch nicht. Sie verlor lediglich ihr Bewusstsein. Dabei beließ ich es auch.

Als ich mich von ihr abwandte, fiel mein Blick auf Nawin und Saimon, die beide Seite an Seite kämpfen. Es wunderte mich, dass Nawin zuließ, dass Saimon überhaupt in die Nähe der Jäger kam. Ich wollte mich schon wieder von ihnen abwenden, als mir etwas Merkwürdiges auffiel. Moment mal! Mein Blick schoss zurück und legte sich auf die Brüder. Nawin und Saimon kämpften gar nicht zusammen gegen die Jäger. Ein eiskalter Schauer lief mir über den Rücken.

Die Brüder kämpften gegeneinander. Die Jäger, die immer wieder dazwischenfunkten, machten es Nawin nicht gerade leichter, den Angriffen seines jüngeren Bruders auszuweichen. Außerdem fiel mir nun auf, dass die Jäger Saimon überhaupt nicht angriffen. Nur Nawin. Saimon kämpfte zusammen mit den Jägern gegen seinen Bruder.

Was sollte das? Wieso tat Saimon das? Ich konnte es nicht verstehen. Ich hatte Saimon doch wieder aus den Tiefen seines Kopfes zurück geholt. Er konnte den Jägern doch nicht freiwillig helfen!

Nawin hatte sichtlich Schwierigkeiten, gegen die Jäger zu kämpfen, die ihn angriffen, da er immer wieder von Saimon attackiert wurde, den er unter gar keinen Umständen verletzen wollte. Saimon, der das wusste, ging immer wieder zwischen Nawin und die Jäger, wenn Nawin es wagte, einen Angriffsversuch zu starten. Den musste er jedoch immer wieder abbrechen und gleichzeitig versuchte er seinem kleinen Bruder zu entgehen, der wie besessen versuchte, Nawin zu verletzen. Oder zu töten. Allerdings versuchte er dieses mal nicht, ihm die Augen auszukratzen.

Wie erstarrt betrachtete ich die Szene, die sich mir bot. Wie konnte das sein? Ich hatte Saimon zurückgeholt. Er war so gesehen wieder in Ordnung! Ich konnte nicht versagt haben! Saimon konnte keinen Rückfall haben! Oder etwa doch? Hatte ich versagt?

"Saimon!", hörte ich Nawin immer wieder verzweifelt rufen. "Bitte lass das! Saimon, bitte! Was ist nur los mit dir?" Etwas in mir zog sich zusammen. Wenn ich noch nicht einmal Saimon helfen konnte, wie konnte ich dann den anderen helfen und deren Erwartungen entsprechen? Wie konnten die anderen so viel Vertrauen und Hoffnung in mich setzen, wenn ich doch sogar bei einem kleinen Jungen versagt hatte?

Frustriert schob ich diese Gedanken beiseite. Darüber konnte ich später noch nachdenken, sollte es ein Später geben. Erst einmal musste ich Nawin und Saimon helfen. Mit schnellen Schritten ging ich auf die Brüder zu. Nawin, der mich bemerkte, wirkte tatsächlich erleichtert, mich zu sehen. Und das, obwohl ihm meine tiefschwarzen Augen nicht entgangen waren.

"Mika!", rief er. Die Anstrengung war ihm anzuhören und anzusehen. Er wich erneut einem von Saimons Angriffen aus. "Ich weiß echt nicht, was mit ihm los ist!" Nawin ließ die Jäger einige Meter zurück schlittern, als er mit seinen Fähigkeiten ausholte und sie erwischte. "Ganz plötzlich ist er hier auf dem Gelände aufgetaucht und hat versucht, mich zu töten!" Die Verzweiflung schwang in seiner leicht zitternden Stimme mit. Saimon war die einzige Familie, die Nawin noch hatte. Er hatte Saimon gerade erst zurück. Und nun das. Wie schlecht konnte es das Schicksal mit ihm nur meinen? Das war grauenvoll.

Nun schlug Saimon nach mir aus. Ich wich zurück und versuchte einen Blick auf seine Augen zu erhaschen. Tatsächlich. Sie waren wieder genau so leer, wie an dem Tag, an dem wir ihn gefunden hatten. Doch dieses mal war ihnen ein irres Funkeln mit beigemischt. Wie hatte ich nur annehmen können, dass mit dem Jungen alles wieder in Ordnung war? Es war ja nicht nur so, dass er einer Gehirnwäsche unterzogen worden war. Das alles war ein traumatisches Erlebnis gewesen. Natürlich hinterließ so etwas einen vielleicht sogar langanhaltenden Schaden. Und Saimons Befreiung war noch nicht einmal achtundvierzig Stunden her. Er hatte gar keine Zeit gehabt, das alles zu verarbeiten.

"Mika, kannst du ihm nicht wieder helfen?", fragte mich Nawin verzweifelt. "Vielleicht muss man das nur immer alle paar Stunden wiederholen und er ist wieder okay. Vielleicht braucht er das wie eine Art Medikament." An seiner Stimme erkannte ich allerdings, dass Nawin keinerlei Hoffnungen mehr hatte, dass sein Bruder wieder gerettet werden könnte. Er versuchte bloß sich selbst einzureden, dass es eine Möglichkeit gab.

"Ich kann es versuchen.", sagte ich und wich dieser mal einer sich lösenden Bodenplatte aus, die im schwarzen Abgrund verschwand. Wenigstens für Nawin musste ich es tun. Auch, wenn ich mir fast sicher war, dass es bei Saimon nicht mehr funktionierte.

Ich schnellte vor, als Saimon einen Augenblick ruhig vor mir stand und legte meine Hände auf seinen Kopf. Sofort begann er zu kratzen und zu treten. Merkwürdiger Weise benutze er seine Fähigkeiten als Obscura überhaupt nicht. Es war, als wäre er seiner Macht beraubt worden. Er war nicht mehr, als ein kleines Menschenkind.

Bevor irgendwer etwas dagegen unternehmen konnte, schlüpfte ich in Saimons Kopf. Was ich dort allerdings vorfand, verstörte mich. Chaos. Durcheinander. Irre Gedankenfetzen. Der Geist von Nawins Bruder war zerstört. Zertrümmert. Hier konnte niemand mehr etwas richten.

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