Kapitel 71 - Mission: Saimon

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"Wie wäre es, wenn wir erst einmal schlafen gehen, Desdemona?", fragte ich vorwurfsvoll, als Desdemona Nawin und mich durch die Gänge des Internats zog. "Es war eine wirklich lange Nacht und wir haben uns wirklich mal wieder etwas Schlaf verdient."

Doch Desdemona schüttelte ernst den Kopf. "Wir müssen das hier so schnell wie möglich erledigen, Mika. Das weißt du genauso gut wie ich.", meinte sie. Natürlich hatte sie nicht ganz unrecht, aber was nützten wir Saimon oder den anderen, wenn wir nicht erholt waren? Da ich aber wusste, dass Desdemona sich nicht von ihrer Entscheidung abbringen lassen würde, versuchte ich es mit etwas anderem.

"Lass uns wenigstens noch etwas essen, bevor wir losgehen. Oder wir nehmen nur etwas mit. Bitte." Ich blieb stehen. Da Desdemona nicht stark genug war, um mich nun weiter mit sich zu zerren, war sie nun ebenfalls gezwungen stehen zu bleiben. Genervt drehte sie sich zu mir um.
"Mika.", sagte sie. "Du bist doch zum Teil eine Hexe. Kannst du nicht einfach mal mit deinen Fingern schnipsen und dich wach halten oder dir Essen zaubern?"
Empört starrte ich meine beste Freundin an. Es war mitten in der Nacht, bereits weit nach ein Uhr. Die Flure waren menschenleer und die Nachtluft drang durch jedes Fenster. "So einfach ist das nicht! Außerdem glaube ich nicht, dass es so funktioniert!", entgegnete ich.
Desdemona seufzte und ließ meine Hand los. "Du weißt nicht einmal, wie die kleinen Dinge funktionieren. Du hast generell keine Ahnung von deinen Kräften und weißt auch nicht, wie du sie richtig anwendest. Alles was du mit ihnen anstellst, ist zufällig.", redete Desdemona sich in Rage. Die dunklen Schatten unter ihren Augen wiesen darauf hin, dass sie in letzter Zeit genauso wenig geschlafen hatte wie ich. Wütend funkelten ihre giftgrünen Augen mich an. "Verdammt, Mika. Lern endlich, damit umzugehen! Es bringt uns allen nichts, wenn du alles auf dich zukommen lässt und es dem Zufall überlässt, was du bis dahin kannst! Vergiss nicht, dass in wenigen Tagen die Jäger angreifen, du bis dahin trainiert haben musst und wir Saimon befreit haben müssen! Außerdem müssen wir auch noch wenigstens in der Nacht bevor die Jäger kommen, einmal wieder richtig schlafen, da wir dem Internat als wandelnde Zombies keine Hilfe sind!" Desdemona machte eine Pause, atmete einmal tief ein uns aus. Ich konnte sie nur anstarren. Wow. Immerhin wusste ich nun wie sie dachte. Doch verbissen musste ich leiser zugeben, dass sie recht hatte. Ich hatte mich nie wirklich großartig mit meinen Fähigkeiten beschäftigt. Und wir würden sie definitiv brauchen. Betroffen senkte ich meinen Blick. Ich wusste, dass Desdemona Recht hatte, dennoch war es nicht sonderlich schön, solche Worte an den Kopf geworfen zu bekommen.
Auf einmal seufzte Desdemona. Mit etwas ruhigerer Stimme fuhr sie fort: "Mika, ich weiß dass die ganze Situation nicht leicht für dich ist. Aber wir können nicht immer Rücksicht auf dich nehmen. Besonders jetzt nicht. Wir alle zählen auf deine Hilfe, nur wird sie uns nichts bringen, wenn du keine Ahnung von dem hast, was du tust." Sie lächelte schwach. "Wir brauchen alle wieder etwas Schlaf. Und ich verspreche dir, dass wir das auch tun, sobald wir Saimon haben und noch genug Zeit übrig ist, um ins Internat zurück zu kehren."
Ich zwang mich zu einem knappen Lächeln. Leider waren ihre Worte wahr.

Nawin, der bisher noch nichts gesagt hatte, meldete sich nun unsicher zu Wort. Vermutlich hatte er immer noch Angst, dass Desdemona bei allem was er zu sagen hatte, einen abwertenden Kommentar abließ. "Ich weiß nicht, ob das gerade stört, aber ich wäre wirklich dafür, dass wir etwas zu essen mitnehmen.", meinte er, woraufhin Desdemona seufzte.
"Gut.", willigte sie ein. "Wir laufen kurz beim Speisesaal vorbei."

Schweigend setzten wir unseren Weg fort. Wir mussten bloß ein paar Gänge weitergehen, dann waren wir schon am Speisesaal. Mir war es noch nie aufgefallen, wie unheimlich das Internat eigentlich bei Nacht wirkte. Nawin huschte ganz kurz in den Speisesaal und ließ Desdemona und mich alleine.

"Jetzt tut es mir leid, was ich alles zu ihm gesagt habe.", gestand Desdemona auf einmal leise. Zerknirscht starrte sie auf ihre Schuhe.
"Du konntest es doch nicht wissen.", meinte ich und sah zur offenen Speisesaaltür. Ich konnte Nawin sehen, der sich am so gut wie leeren Buffet bediente. Leise huschte er hin und her. Desdemona folgte meinem Blick. "Er hat aber genug Andeutungen gemacht, dass etwas nicht in Ordnung ist.", sagte sie leise. "Außerdem habe ich ihn gekannt. Ich hätte merken müssen, dass er normalerweise niemals so etwas tun würde." Das blasse Mondlicht, das durch eines der Fenster schien, beleuchtete Desdemonas Gesicht.
"Es bringt nicht, dir Vorwürfe zu machen.", sagte ich ebenso leise. "Du kannst die Vergangenheit nicht ändern und im Moment haben wir, wie du vorhin sagtest, ganz andere Probleme." Desdemona zuckte mit ihren Schultern. "Ich weiß.", sagte sie knapp. Da kam auch schon Nawin wieder zurück. "Gut. Ich habe was.", sagte er. "Ihr könnt es jetzt schon alles essen, oder wir gehen sparsam damit um."
"Sparsam.", entschied Desdemona sofort und reichte mir eine Scheibe Weißbrot und einen Müsliriegel. "Danke.", sagte ich und Desdemona nickte. Anschließend nahm sie sich das selbe. Nur Nawin entschied sich für einen Apfel und eine Scheibe Roggenbrot. Den Rest stopfte er in die großen Taschen seines Pullovers.

"Na dann.", meinte er. "Können wir ja jetzt losgehen!" Plötzlich sah er sehr ernst aus. Zielstrebig ging er los. So schnell, dass Desdemona und ich Mühe hatten, überhaupt hinterher zu kommen. Man sah Nawin an, dass er lange Zeit lang seine Hoffnung, seinen kleinen Bruder wiederzusehen, verloren hatte. Doch jetzt sprühte er nur so vor Hoffnung. Er liebte seinen kleinen Bruder und er vermisste ihn. Immerhin war er der letzte, der ihm aus seiner Familie geblieben war. Ein Lächeln legte sich auf mein Gesicht, während ich Nawin, der so voller Energie war, betrachtete. Dann dachte ich an meinen eigenen Bruder. Wir kannten uns noch nicht so lange. Doch er bedeutete mir jetzt schon ziemlich viel. Und ich hoffte, dass, selbst wenn wir irgendwann schon sehr viel Zeit miteinander verbracht haben werden, wir noch immer in einer guten Beziehung zueinander stehen und es nicht so ist, wie bei so vielen anderen Geschwisterpaaren.

Zu dritt eilten wir aus dem Internat. Kaum hatten wir auch nur einen Schritt durch die Tür gemacht, empfing uns die frische Nachtluft. Vor uns war alles in Dunkelheit getaucht und das Licht des Mondes trug auf dieser Seite des Schlosses nicht dazu bei, dass weniger Schatten vor uns lagen.

Desdemona wandte sich an Nawin. "Weißt du, wie es von hier aus zu eurem Haus geht?", wollte sie wissen.
Nawin biss sich nachdenklich auf seine Unterlippe und runzelte seine Stirn. Desdemona und ich warfen uns zweifelnde Blicke zu. "Naja.", begann Nawin schließlich. "So halb. Aber ich bekomme das bestimmt hin." Die Hoffnung, die vorhin nur so aus ihm herausgesprüht war, war mittlerweile zu Zweifeln geworden.
"Kennst du die Adresse?", harkte Desdemona scharf nach.
Nawin sah Desdemona verwirrt an. "Ja?", sagte er langsam. "Natürlich kenne ich meine eigene Adresse."
Zufrieden sah Desdemona zu mir. "Na also.", sagte sie. "Mehr brauchen wir eigentlich auch gar nicht. Nicht wahr, Mika?" Verschwörerisch zwinkerte sie mir zu. Ich wusste sofort worauf sie hinaus wollte. Nawin allerdings nicht. Sein Blick war von Zweifeln getränkt.
"Theoretisch nicht. Nein.", sagte ich. "Aber hier könnte es ein wenig dauern, bis ein Auto vorbei kommt und nicht in jedem Auto ist ein Navi." Wir könnten Glück haben. Aber vielleicht würden wir auch Stunden warten müssen, bis wir ein Auto mit einem Navigationsgerät gefunden hätten. Allerdings würde das, wie ich vermutete, trotzdem schneller gehen, als wenn wir vollkommen ahnungslos in eine ungefähre Richtung laufen würden.
"Gut.", meinte Desdemona schulterzuckend. "Auf zur Straße." Nawin, der immer noch keine Ahnung hatte, guckte ziemlich verwirrt. "Ihr wollt ein Auto anhalten? Ich glaube nicht, dass uns jemand mitnimmt.", sagte er. "Ich meine: Es sieht doch ziemlich komisch aus, denn drei Jugendliche mitten in der Nacht im Nirgendwo ein Auto anhalten und mitfahren wollen. Außerdem fährt nicht jeder in unsere Richtung."
Desdemona lachte. Sichtlich amüsiert über seine Unwissenheit lief sie los. "Du hast vielleicht Ideen. Aber nein, das haben wir nicht vor." Ein diabolisches Lächeln zierte ihre Lippen und die Aufregung blitzte in ihren Augen. Nun hatte sie Nawin komplett verwirrt.
"Wir werden doch wohl kein Auto mit Gewalt zum Anhalten zwingen und es dann stehlen?!", rief er entsetzt aus, worüber Desdemona nur lachen konnte.
"Jetzt bist du schon näher dran.", sagte Desdemona grinsend. "Aber so gesehen stehlen wir es nicht und Gewalt nutzen wir auch nicht." Nawin verstand überhaupt nichts mehr.

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