Kapitel 39.2 - Die eisige Katze

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Liam sah uns lange an. Schien abzuwägen, was besser wäre. "Ja. Wenn ihr mich endlich einweiht."

Ich spürte Desdemonas besorgten Blick auf mir. Ich schluckte. "Okay. Aber erst, wenn wir das mit Ariadne hinter uns haben, verstanden?"

Liam wirkte erleichtert. "Okay, verstanden. Aber du erzählst es mir dann." Ich nickte.

"Du weißt nicht, auf was du dich dabei einlässt ...", vernahm ich Desdemona seufzen.

Würde Liam das überhaupt verkraften? Ariadne hatte das schlecht verkraftet. Aber das wusste er ja selber, wie sie darauf reagiert hatte. Die Frage war nur, wie würde Liam reagieren?

"Nun, weshalb hattet ihr Ariadnes Akte?"

Desdemona seufzte erneut. "Cassandra hat sie uns gegeben."

Liams Gesichtsausdruck war nun wirklich sehr merkwürdig. Kein Wunder. Alle dachten, Desdemona verachtete Lady Darkstone (was auch so war), aber dann sprach sie sie mit Vornamen an, als sei es normal.

"Ihre Tante.", fügte ich hinzu.

Liams Augen wurden groß. "Wie bitte?!"

Desdemona ignorierte ihn.

"Ariadne gehört zu den Jägern. Du weißt doch, was Jäger sind, oder?" Ich sah zu Liam. Dieser war ganz blass geworden. Ich deutete das als ein "Ja". 

"Und Cassandra meint, dass man sie noch retten kann und hat uns deshalb die Akte gegeben. Wir haben auch schon eine Idee, wie wir das anstellen.", erklärte Desdemona.

"Ach ja und wie?" Liam wirkte wieder gefasst.

"Indem wir ihre Geschwister finden und sie hier her holen. Ariadne ist damals mit zwölf von zu Hause verschwunden, da ihre Familie nur aus Wasser Elementary besteht und ihre Eltern nicht akzeptieren konnten, dass Ariadne eben nicht so ist und auch ansonsten immer rebelliert hat. Wir vermuten, dass sie danach direkt zu den Jägern gegangen ist, aber wie sie auf die Jäger gekommen ist, wissen wir auch nicht."

"Noch nicht.", fügte Desdemona hinzu. Ich nickte. "Genau. Noch nicht."

"Und was habt ihr - Ich meine, was haben wir vor?" Liam sah uns beide an.

"Wir wollen zu Ariadnes Eltern. Die Adresse stand in der Akte. Und da meine Tante uns wohl nicht gehen lassen wird, können wir sie nicht fragen, ob sie weiß, wo Ariadnes Geschwister wohnen. Also müssen wir das aus ihren Eltern herausbekommen.", fuhr Desdemona fort.

"Weshalb wird sie euch nicht gehen lassen?"

Desdemona seufzte. "Das gehört teilweise zu dem, was wir dir wenn wir es geschafft haben wegen Lune erzählen. Aber es war schon ein Jäger hier im Schloss. Cassandra will uns alle beschützen und das kann sie nicht, wenn wir nicht hier sind."

Liam stellte keine weiteren Fragen, worüber ich wirklich froh war. Er gab sich mit den Informationen, die er bekommen hatte zufrieden. Vorerst. Ich würde wohl nicht drum herum kommen, ihm eines Tages zu erzählen, was mit mir los war. Aber ich hatte Zeit. Wie viel Zeit kam darauf an, wie lange wir brauchten, um Ariadnes Geschwister ausfindig zu machen und hier her zu bringen.

Wir erreichten die große Eingangshalle des Schlosses.

Desdemona begann leise zu fluchen. "Was ist denn?", fragte ich sie. Stumm deutete sie auf etwas. Liam und ich suchten den Punkt, auf den sie zeigte und fanden ihn. Oben auf einer der Säulen, saß ein schwarzer Rabe, dessen schwarze Augen auf uns lagen.

"Ist doch nur irgendein Vogel.", sagte Liam schulterzuckend.

Wütend fuhr Desdemona zu Liam herum. "Nein, du Idiot! Das ist nicht nur irgendein Vogel! Das ist Cassandras Rabe! Seine Augen sind ihre Augen. Seine Flügel sind ihre Flügel. Seine Ohren sind ihre Ohren. Wir haben ein verdammtes Problem, wenn er etwas gehört haben sollte! Und wir kommen nicht weit, wenn er weiß, dass wir aus dem Schloss wollen!"

Desdemona machte einige Schritte nach vorne. Der Rabe folgte ihr aufmerksam mit seinen Augen. "Hallo, Hermes.", säuselte sie und ging in die Knie, während sie zu dem Raben hinauf sah. "Hermes, mein Guter, komm her, Kleiner. Komm zu Desdemona." Der Rabe gab einen schrillen Ton von sich, breitete seine schwarzen Flügel aus und stürzte sich im Sturzflug die Säule hinunter. Desdemona streckte einen Arm aus. Der Rabe krallte sich an ihrem Arm fest und sah sie an.

"Hermes, alter Junge, wie geht es dir?", säuselte sie weiter und erhob sich langsam. Kurz stieß der Rabe wieder einen schrillen Ton aus, doch gewöhnte sich dann daran, dass Desdemona lief. Mit der anderen Hand streichelte sie sein Gefieder. Das gefiel Hermes wohl, denn er schloss seine Augen. Desdemona zeigte uns mit ihrem Blick, dass das der richtige Moment war. Liam und ich schlicken an ihr und Hermes vorbei, während sie dem Raben irgendetwas aus ihrer Kindheit erzählte, wo sie mit ihm damals gespielt hatte und ihn weiter streichelte. Dabei verschwand sie um die Ecke. Liam riss die Tür auf und wir beide schlüpften hindurch. Kurz darauf kam Desdemona angerannt. - Ohne Hermes.

Sie schloss die Tür hinter uns. "Hermes war schon immer da gewesen. Seit ich denken konnte. Hatten meine Eltern und meine Tante mich alleine irgendwo spielen lassen, war er immer dabei gewesen, um auf mich aufzupassen. Er ist nicht dumm, aber er hat mich schon immer gemocht." Sie wischte sich eine dunkelbraune Haarsträhne aus dem Gesicht. "Seit dem ich den Kontakt zu Cassandra meide, habe ich auch ihn gemieden und er mag es, wenn ich da bin."

"Das hast du gut gemacht.", sagte ich grinsend.

"Wir sollten trotzdem schnell machen, bevor der Rabe doch noch petzen geht.", meinte Liam, der Hermes ziemlich zu misstrauen schien.

Desdemona nickte und wir alle drei rannten über das Gelände, auf den Wald zu, dessen Bäume uns Deckung geben würde.

"Aber was machen wir, wenn wir auf ... Jäger treffen?" Desdemona warf mir einen Seitenblick zu. Sie schien nicht nur irgendeinen Jäger zu meinen, sondern auch diesen einen Jäger. Ich zuckte mit den Schultern. Ich wusste nicht, was ich tun würde, wenn wir auf Damon treffen würden. Und ich wollte auch nicht darüber nachdenken.

"Mach dir darüber keine Sorgen.", meinte Liam und legte mir seinen Arm um die Schultern. "Immerhin haben wir Lune. Sie ist eine Ghost. Du hast doch gesehen, was sie mit Ariadne gemacht hat!"

"Hm hm.", machte Desdemona nur und verkniff sich, dass ich genau die Person war, auf die es die Jäger und alle andere abgesehen hatten.

Wir erreichten den Wald und wurden schnell von den dichten Bäumen verschluckt. Ich hoffte nur, dass Lady Darkstone unser Verschwinden noch nicht bemerkt hatte.

"Dann auf nach London!", sagte Desdemona voller Tatendrang und reckte ihre Faust demonstrierend in die Luft.

"London?", kam es fassungslos von Liam. Tja. Damit hatte er wohl nicht gerechnet, aber er hatte sich darauf eingelassen.

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