Kapitel 49 - Richtig und Falsch

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Grazil erhob sie sich und wirkte dabei auch noch wie eine Königin. Ariadne entsprach in meinen Augen auch einer Königin. Ihre Stärke, ihre Schönheit, ihre Selbstbeherrschung, ihr anmutiges Auftreten. Und ihre Macht. Doch ich machte mich nicht klein. Ich wich nicht zurück. Ich war vielleicht nicht wie Ariadne, aber ich war auch kein Feigling. Dass sie mich mit ihren Worten durcheinander gebracht hatte, dass sie mich geschockt hatte, ließ ich mir nicht anmerken. Nach außen hin war meine Fassade kühl und gefasst, während ich innerlich zusammengezuckt war und ich mich fragte, weshalb verdammt noch einmal sie meinen Namen kannte. Und außerdem, von welcher Schwäche sprach sie? Von meinen Freunden? Von meiner Familie?

Langsam, aber mit bestimmten Schritten schritt sie mit einer Anmut wie Schnee zu mir. Ihre Augen deren Farbe die Farbe von Eis war, blickten auf mich herab. Ariadne war größer als ich, aber würde ich die Gestalt von Lune James fallen lassen und mit meiner eigenen wieder verschmelzen, wären wir ungefähr gleich groß.
Ich konnte keinerlei Regungen hinter ihrer Maske wahr nehmen. Doch ich hielt ihren durchdringenden Blick stand, der schien, als könnte er in mich hinein sehen. Es war alles andere als angenehm, doch ich zwang mich, nicht die erste zu sein, die den Blickkontakt brach.
"Du brauchst diese zweite Identität hier oben nicht, Mika. Ich weiß genau wer du bist.", sagte Ariadne und ihrer Stimme konnte ich nicht entnehmen was sie dachte oder fühlte. Ihre Stimme war ... Ja, wie war sie eigentlich? Sie war nicht so eisig kalt wie immer, dennoch war ihre Stimme auch nicht warm. Ariadnes Stimme war stark und fest. Und hörte ich da einen Hauch von Spott? Meine Miene verfinsterte sich. Ariadne wagte es sich über mich lustig zu machen. Sie wusste wer ich war und somit musste sie wissen, was ich bereits getan hatte. Dennoch schien es ihr völlig egal zu sein wer ich war und wie es in meiner Vergangenheit aussah. Sie hatte keine Angst vor mir. Nicht mehr.
Um sie zu provozieren ließ ich Lunes Gestalt los und verschmolz wieder mit mir selbst. Helles Haar wurde dunkel. Tag wurde zur Nacht.
Meine Augen funkelten nun wieder in zwei verschiedenen Farben auf und nun war ich mit Ariadne auf einer Höhe. In meinem eigenen Körper fühlte ich mich nun viel wohler, da ich auch wieder das Gefühl hatte, wirklich ich zu sein. Sie hatte recht. Sie wusste wer ich war. Also musste ich auch nicht mehr so tun, als sei ich jemand anderes.

Auf Ariadnes Lippen legte sich ein Grinsen, als ich nun in meiner vollen Größe und als ich selbst vor ihr stand. Ich hob leicht mein Kinn an und meine verschiedenfarbigen Augen durchbohrten fest die von Ariadne. Ihr Grinsen wurde breiter. "So gefällst du mir, Mika. Als du selbst machst du viel mehr Eindruck und hast viel mehr Ausstrahlung als wenn du dich als Lune ausgibst!"
Ihre Augen schienen mich zu analysieren, sie schien abzuschätzen wie viel Gefahr von mir ausging. In so etwas musste sie gut sein. Immerhin war Ariadne eine Jägerin. Und wahrscheinlich nicht nur irgendeine Jägerin. Selbst bei den Jägern musste sie einen hohen Rang haben.
"Was willst du, Ariadne?", kam ich nun auf den Punkt, da ich keine Lust mehr hatte, dass Ariadne mich ansah als sei ich ein rohes Stück Fleisch.
Ariadne grinste. "Ja, was will ich?" Gespielt nachdenklich legte sie ihren Daumen und ihren Zeigefinger an ihr Kinn. Spott blitzte in ihren hellen Augen auf und sie ließ ihre Hand wieder sinken. Ihre Miene wurde schlagartig ernst. "Ich will meine Geschwister.", sagte sie düster. Sie begann mich zu umkreisen, als wäre ich eine Maus. "Aber niemand hätte jemals erfahren dürfen, dass ich welche habe." Ihre Augen schienen auf mir zu brennen. Noch immer umkreiste Ariadne mich. "Verstehst du mein Problem, Mika?" Sie blieb vor mir stehen. Natürlich verstand ich ihr Problem. Die Jäger würden sie erpressen. Sie würden mit dem Leben ihrer Geschwister spielen, damit sie Ariadne unter Kontrolle hatten, was vorher nie der Fall gewesen war, weshalb sie besonders gefährlich gewesen war. Doch nun hatten sie etwas gegen Ariadne in der Hand.
"Und deshalb", fuhr Ariadne fort, während sich auf ihren Lippen ein finsteres Lächeln ausbreitete. "wirst du mir helfen sie zu töten." Mir entgleisten die Gesichtszüge. Ein bitterkalter Schauer überkam mich und ich starrte Ariadne an, als hätte sie mir eben verkündet, dass sie mich zum Mord anstiften wollte. Obwohl ... genau das hatte sie und so langsam realisierte ich die Auswirkungen, die ihre Worte hatten. Ariadne Glacial wollte, dass ich für sie tötete. Ich sollte ihre Soldatin sein.

"Du siehst so erschrocken aus.", sagte Ariadne rau lachend. "Dabei hast du genau wie ich keine reine Weste." Dunkelheit zog sich in mir zusammen. Ariadne konnte mich nicht mit ihr selbst vergleichen! Ich war anders als sie! Ich war nicht wie sie. Für Ariadne war das Töten ihr Beruf. Für mich war es etwas Unverzeihliches. Etwas, das man nicht wieder in Ordnung bringen konnte. Hatte man einmal ein Leben ausgelöscht, war es für alle Ewigkeiten verloren.

Ariadnes Miene verhärtete sich und ihre kühle Hand packte mich an der Schulter. Ihre eisigen Augen bohrten sich in meine. "Du bist mächtig, Mika! Sie haben Angst vor dir!" Ihre Finger gruben sich tiefer in mein Fleisch, doch ich spürte keinen Schmerz. Ich spürte überhaupt nichts. "Diese Angst ist dein Weg zur Macht! Mach sie dir zu eigen!", sagte Ariadne eindringlich und ihre Worte strahlten nichts als Härte aus. Sie hatte recht mit dem was sie sagte, doch wollte ich das? Wollte ich töten? Wieder? Ich erinnerte mich an das, was ich gefühlt hatte, als ich es getan hatte. An die Angst, die Verzweiflung. Wollte ich das wirklich wieder erleben?
Ariadne lachte humorlos auf. Unglaube blitzte in ihr auf. "Du kannst es nicht. Du kannst es einfach nicht noch einmal tun. Stimmt's?"
Ich sagte dazu gar nichts. Sie hatte es doch bereits auf den Punkt gebracht. Also schwieg ich. Wieso erwartete Ariadne das von mir? Konnte sie es nicht alleine tun? Zu Töten war ihr Job. Weshalb sollte sie Probleme damit haben, die wenigen Jäger alleine zu töten, die in den Kerkern gelauscht hatten?
"Mika.", versuchte Ariadne es erneut. "Du wirst niemals in Frieden leben. Deine Familie wird immer gejagt werden. Du wirst immer die Ausgestoßene sein, die, die sich von allen anderen unterscheidet. Selbst von deiner Familie." Auf einmal wirkte Ariadne vollkommen anders. Ich erkannte die Trauer, die Verzweiflung ihrer Vergangenheit, die sich nach und nach mit der Zeit in Wut und Hass verwandelten. Ariadne war mit ihren Fähigkeiten die Außenseiterin in ihrer Familie. Und ich? Ich war es ebenfalls. Doch bei mir beschränkte es sich nicht nur auf meine Familie. Ich war anders als alle auf dieser Welt. Ich konnte ihre gemischten Gefühle verstehen. Ich presste meine Lippen fest aufeinander. Was sollte ich tun? Ariadne hatte recht. Die Jäger würden meine Familie nie in Ruhe lassen und schon gar nicht mich. Sie würden mich jagen, bis alles Leben aus mir gewichen sein würde.
Ariadne schien zu bemerken, dass ich über all das was sie gesagt hatte nachdachte und ein Lächeln erschien auf ihren Lippen. "Die Jäger dürfen nicht leben, wenn du leben willst." Sie legte ihre andere Hand auf meine freie Schulter, sah mir tief in die Augen. "Wirst du mir helfen, Mika?"

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