Kapitel 19.2 - Schreie, Tod und Tränen ✅

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Mir blickte ein grinsendes Gesicht entgegen, das von Brandnarben gekennzeichnet war. Es gehörte zu einem mittelalten Mann mit schlammbraunem Haar und schwarzen Klamotten, die ihn mit der Dunkelheit verschmelzen ließen. Böse, matschig braune Augen bohrten sich in meine.

»Wir haben schon so lange darauf gewartet, dass du endlich hier her kommst.«, säuselte er und seine Mundwinkel wanderten noch weiter in die Höhe, als würden sie ihm mit Hilfe von Haken hochgezogen werden. »Weißt du, es hat ewig gebraucht, bis wir dich finden konnten. Und Damon hat dich leider am Leben lassen. Aber keine Sorge. Dafür bin ich ja nun hier.«

Ein Jäger. Natürlich. Was auch sonst? Meine Pechsträhne wollte scheinbar gar nicht mehr aufhören. Allerdings war er wohl kein Feuerelementar. Sonst hätte er keine Brandnarben. Wie schon der tote Jäger vor ihm, strich auch er mir über die Narbe. Unter seiner Berührung zuckte ich erschrocken zusammen. Doch noch immer brodelte etwas in meinem Inneren. Der Fluss an unkontrollierter Energie war noch nicht versiegt.

Der Kerl lachte. Er bemerkte noch nicht einmal, wie es unter meiner Oberfläche kochte. Wieder kehrte diese unbändige Wut zurück, die zuvor nicht vollständig verraucht war. Das musste ich dringend unter Kontrolle bekommen! Sonst würde noch etwas Schreckliches geschehen.

Jedoch schien der Mann die Gefahr nicht zu erahnen, deren Zeuge er gleich werden würde. Stattdessen lachte er zufrieden. Genoss seinen Erfolg, mich gefunden zu haben und es - so wie er glaubte - zu Ende zu bringen. Dann zückte er auf einmal ein Messer. So schnell, dass ich kaum gucken konnte. Und ehe ich mich versah, zog er es mir mit einem geraden Schnitt von oberhalb der Augenbraue bis unterhalb meines Auges.

Der Schmerz durchzuckte mich wie ein Blitzschlag. Plötzlich war er da, erfüllte alles. Mein Denken, meine Wahrnehmung. Der Rest meines Körpers rückte in den Hintergrund. Nur noch das furchtbare Brennen des Schnittes war zu spüren. Warm lief mir das Blut über das Gesicht.

Wimmernd versuchte ich stehen zu bleiben, doch meine Welt begann zu schwanken. Es schmerzte höllisch. Ich wollte einfach nur noch den Schmerz nicht mehr spüren müssen. Mein Auge brannte und das Blut machte es nicht besser. Salzige Tränen vermischte sich mit dem Blut und ließ eine blutrote Spur auf meiner Wange zurück. Warum immer ich?

Ein Schluchzen kam mir über die Lippen, auch wenn ich versucht hatte, es zurück zu halten. Das würde nur ein Sieg für den Jäger sein. Ich durfte mir nicht anmerken lassen, wie verletzlich ich war. Mein Zittern versuchte ich zu verbergen und doch konnte ich ihn nicht täuschen. Diese widerliche Zufriedenheit verursachte in mir Übelkeit. Wie konnte ein Mensch nur so sein?

»Du wärst wohl gerne stärker, als du bist.«, säuselte er und presste sein Messer nun an meinen Hals. Die Finger seiner anderen Hand bohrten sich schmerzhaft in meinen Oberarm.

»Eigentlich bin ich nur die dritte Wahl für den Job hier.«, sagte er breit lächelnd. Sein schlammigen Augen wirkten erstaunlich sanft und gerade das fand ich so fürchterlich. »Die erste Wahl war Damon. Aber du weißt selbst am Besten, dass er versagt hat. Zur zweiten Wahl haben wir den Kontakt verloren. Vermutlich hat er er weiche Knie bekommen.« Gleichgültig zuckte er mit seinen Schultern. »Aber nun bin ich ja da. Mach dir keine Sorgen, du wirst den Tod schon noch finden.«

Hektisch wollte ich meinen Kopf schütteln, doch der fühlte sich schwer und träge an, während noch immer die Schmerzen meinen Verstand für sich beanspruchten.

»So, meine liebe Mika. Wie möchtest du denn sterben? Ich bin gnädig.«, sagte er mit einem sanften Lächeln auf den Lippen. »Schnell oder langsam und qualvoll?«

In meinem Kopf wollte sich kein verständlicher Gedanke formen. Das Einzige, woran ich denken konnte, war der Schmerz.

»Ja?«, fragte der Jäger geduldig. Dachte er wirklich, dass irgendwer auf seine Fragen ernsthaft antworten und sich freiwillig von der Welt verabschieden würde? Im Moment war mein Leben nicht gerade lebenswert. Die Ungewissheit meiner Zukunft ließ mich ängstlich schwindeln. Alle hassten mich, meine Kräfte taten, was sie wollten und ich hatte bereits zwei Menschen getötet. Dennoch widerstrebte es mir, all dem ein Ende setzen zu lassen. Ich wollte leben. Wollte es so unbedingt.

Meine Kräfte machten sich selbstständig, was alles andere als gut war. Es war fatal. Sie raubten mir mein Gewissen und ich fürchtete, dass es mir eines Tages vollkommen abhanden kommen könnte. Und diese Befürchtung jagte mir eine Heidenangst ein.

All den Tod, den sie verursacht hatten, all das Leid. All das verfolgte mich. Jagte mich, wurde mir immer und immer wieder vor Augen geführt. Wie sollte ich nur jemals damit leben?

Abgesehen davon fürchtete ich die Konsequenzen. Aber ändern konnte ich es nicht mehr. So gerne ich das auch wollte. Getan war getan. Doch die Zukunft konnte ich noch ändern. Die Frage war bloß, ob meine Kräfte mich machen ließen oder ob sie eingriffen und wieder alles zunichte machten. Konnte ich den Jäger am Leben lassen? Ihn zu töten würde definitiv mein Leben retten. War es allerdings auch möglich, ohne Tod und Verderbnis heile aus der Sache wieder hinaus zukommen?

»Du überlegst aber ganz schön lange.«, stellte der Jäger fest. »Ich will endlich deine Antwort hören.«

Langsam klärten sich meine Gedanken. Handeln musste ich. Daran käme ich nicht vorbei. Meine Miene wurde kalt. Meine Augen eisig.

»Du wirst dich jetzt entscheiden müssen.«, sagte ich mit einer Stärke in der Stimme, von der ich nicht wusste, wie ich sie hatte aufbringen können. Bereits jetzt schon vernahm ich, wie sich die dunkle Kraft in meinem Inneren rührte. Wie sie ihre langen Finger nach der Oberfläche ausstreckte, wie sie in mein Gewissen drang, es langsam zu betäuben begann. Doch das durfte ich nicht zulassen. Bloß ein bisschen. Es in Grenzen halten, ihm klarmachen, wie weit es gehen konnte und wann es genug war.

Erfreut grinste er. Sein Gesicht hellte sich auf und er wirkte tatsächlich glücklich. »Wunderbar! Das hatte ich bis jetzt noch nie!« Er freute sich wie ein kleines Kind. Ich ließ ihn in dem Glauben, während ich erlaubte, dass mich die Kälte holen kam. Meine Angst hatte sie bereits vollkommen im Keim erstickt, den Schmerz betäubt.

»Wie entscheidest du dich?«

Seine Augen begannen fanatisch zu funkeln. »Langsam und qualvoll.« Seine Mundwinkel wurden höher und höher gezogen. Das Grinsen sah beinahe schmerzhaft aus. Dann nahm er das Messer von meiner Kehle, betrachtete es liebevoll, als wolle er ihm gut zureden.

»Du hast dich entschieden.«, stellte ich gleichgültig fest und urplötzlich ließ er sein Messer fallen. Vor Schreck riss er den Mund und die Augen weit auf. Das Entsetzen hatte das fanatische Funkeln aus seinen Augen fort gewischt. Ohne Vorwarnung sank er auf die Knie und schrie stumm. Unsichtbare Hände rissen in unbarmherzig in die Luft. Dort hing er nun wie ein Besessener an nicht sichtbaren Fäden.

Die Kraft in mir floss immer schneller heraus, wehrte sich gegen die Schranken, die ich versuchte, einzurichten. Wütend lehnte sie sich auf, wollte vollständig herausgelassen werden. Das bisschen Freiheit genügte ihr nicht. Erneut kam sie mir vor wie ein wildes Tier. Etwas, das nicht mir gehörte. Etwas, über das ich keinerlei Kontrolle hatte. Trotzdem kämpfte ich verbissen gegen sie an. Verteidigen, nicht töten. Verteidigen, nicht töten. Immer und immer wieder wiederholte ich gedanklich diesen Satz.

Ob ich es letztlich schaffte, den Tod aufzuhalten, nachdem meine Fähigkeit verlangte? Ich wusste es nicht. Mit jeder weiteren Sekunde des Kampfes verlor ich an Energie. Der Parasit und ich, wir beide zerrten von ihr. Dunkle Flecken tanzten vor meinen Augen, raubten mir nach und nach die Sicht. Das Grün und Braun der Bäume verschwamm, vermischte sich. Meine Gedanken wurden schläfrig.

Das letzte, was ich wahrnahm, waren zwei bekannte Gestalten, die durch das Dickicht brachen und erschrocken stehen blieben, sobald sie mich sahen.

»Mika!«, rief Will und drängte sich an Damon vorbei, auf mich zu. Aber meine Energie war vollkommen ausgeschöpft. Meine Welt fiel in die Schwärze. Die Dunkelheit erlöste mich von meinen Gedanken und Schmerzen. Schenkte mir Ruhe. Erleichtert gab ich mich ihr hin.

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