Kapitel 39 - Die eisige Katze

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"Was ist das?" Ariadne betrachtete desinteressiert die Akte, die auf dem Boden lag. Desdemona, wie auch mir entwich ein leiser verzweifelter Laut. Wenn sie jetzt herausfand, dass wir über ihre Vergangenheit nachforschten, würde sie uns niemals vertrauen!

Sie besah sich noch einmal kalt die bizarre Szene, die sich ihr bot; Liam, der von Desdemona mit aller Kraft zu Boden gedrückt wurde, während sie auf ihm drauf lag, wie ein Wrestling Profi und mich, die dahinter stand und sich nicht bewegte, während meine Augen geweitet auf der Ariadne und der Akte lagen.

Sie schüttelte spöttisch den Kopf. "Was für ein Haufen von Idioten ..." Sie kniete sich hin und ihre Finger berührten die Akte. Ihre Augen lagen einige Sekunden auf dem Schriftzug, bis sie langsam zu realisieren schien, was darauf geschrieben stand. Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen und sie zog ihre Hand zurück, als hätte sie sich verbrannt.

Eine Ewigkeit lang schien sie den Namen auf der Akte anzustarren, dann, ganz langsam, schwenkte ihr Blick zu uns. Wir alle drei schluckten. Desdemona erhob sich schnell, lief langsam einen Meter zu mir zurück, ohne ihre Augen von Ariadne zu nehmen, die aussah, wie eine wütende Raubkatze, die sich gleich auf uns stürzen würde, um uns zu zerreißen.

"Es ist vorbei.", flüsterte Desdemona mir zu und ich wusste, dass sie vermutlich recht hatte. Wir hatten die Chance verloren.

Ruckartig erhob sich Liam. Doch anstatt einfach zu gehen oder in den Schatten zu verschwinden, stellte er sich schützend vor uns, als erwartete auch er, dass Ariadne gleich zum Angriff überschreiten würde. Desdemona und ich warfen uns kurz überraschte Blicke zu.

Langsam, aber bedrohlich erhob sich Ariadne wieder, mitsamt der Akte in ihrer Hand. Das Papier der Akte bekam Risse. Ariadnes eisige blaue Augen lagen wie ein Todesomen auf uns. Wir waren geliefert.

"Wie konntet ihr nur." Ihre Stimme war leise und genau das machte sie so bedrohlich.  Ihre Schritte waren langsam, aber so voller Grazie, als wäre Ariadne selbst eine Katze. Eine Raubkatze, angemerkt.

"Ariadne, beruhige dich!" Liams Stimme war ruhig, aber bestimmt.

Ariadne lachte gehässig auf. "Von dir, lasse ich mir nichts sagen, du nutzloser Schatten." Ihr gehässiges Lachen erlosch. "Geh mir aus dem Weg! Noch kannst du gehen, denn du hängst da nicht mit drinnen. Es waren die beiden." Ihre Augen sahen Desdemona und mich böse an. "Noch kannst du gehen. Du hängst nicht mit drinnen."

Doch Liam blieb standhaft. "Ich bleibe. Ich bin doch nicht feige. Und ein nutzloser Schatten bin ich auch nicht!"

"Liam, geh!", zischte Desdemona ihm zu, auch wenn sie es ungern tat. Sie wollte sich nicht alleine mit mir einer wütenden Ariadne gegenüber stellen.

"Ja, Liam, hör auf Desdemona!", spottete Ariadne.

Ich spürte Desdemonas aufkommende Wut. "Nenn mich ni-" Ich stieß ihr in die Seite, sie verstummte. Es war nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Das konnte Desdemona nachholen, wenn Ariadne nicht darauf aus war, uns fertig zu machen.

"Ich sagte doch bereits, ich bleibe!" Liam funkelte Ariadne aus seinen zornigen grünen Augen an.

Ariadne lächelte böse. "Wenn du so willst." Sie erhob ihre Arme. Ich spürte, wie die Temperatur in diesem Flur drastisch fiel. Unser Atem gefror. Auf dem Boden verbreitete sich eine dünne Frostschicht. Ariadne mit ihrem bösen Lächeln stand mittendrin.

Ich musste etwas unternehmen! Immerhin wollte ich nicht als Eisskulptur enden und ich war mir ziemlich sicher, dass Liam und Desdemona das auch nicht wollten.

Der Frost am Boden kletterte an unseren Füßen hinauf, bis hin zu unseren Unterschenkeln und wurde langsam zu Eis. Liam wollte sofort auf Ariadne zu rennen, doch das Eis fesselte ihn an den Boden.

"Mika, unternimm etwas!", flüsterte Desdemona mir leise zu, sodass nur ich sie hören konnte.

"Ich bin dabei!", flüsterte ich ihr zurück. Was sollte ich tun? Ich musste Ariadne aus Gefecht bringen, ansonsten brachte alles nichts. Doch wie stellte ich das an? Ich konnte nicht in ihren Kopf eindringen. Also konnte ich sie auf diese Weise auch nicht dazu bringen, das hier zu stoppen.

"Du verfluchte Hexe!", zischte Liam, der mit aller Kraft versuchte, das Eis zu brechen, das nun bis zu seiner Hüfte reichte. Bei uns war es nicht anders. Desdemona klapperte mit den Zähnen. Ich war wirklich froh darüber, immun gegen diese Kälte zu sein, auch wenn ich sie spürte. Aber mir machte sie nichts aus.

Das schien auch Ariadne zu bemerken. "Du elendiger Vam-" "-LALALALALALAAAA!", kreischte Desdemona wie am Spieß los, damit Liam bloß nicht hörte, wie Ariadne mich nannte.

Verstört blickte Ariadne zu Desdemona. "Was ist denn mit dir los?" Auch Liam schaute sie verstört an.

Das Ariadne abgelenkt war, kam mir nur zu gelegen. Dunkler Nebel strömte aus mir hinaus und zwang Ariadne in die Knie. Sie keuchte. Doch noch kontrollierte sie ihren Schmerz. Als sich mein Nebel allerdings enger um sie zog, bis er sie komplett verschluckte, erklangen ihre Schmerzensschreie. Gleichzeitig übernahm ich die Kontrolle über ihr Eis und es schmolz. Liam und Desdemona atmeten erleichtert auf, als sie wieder frei waren.

Ich zog meinen Nebel zurück und Ariadnes Schreie wurden durch ein schweres Keuchen ersetzt. Kraftlos hockte Ariadne am Boden.

Vielleicht hatten wir doch noch eine Chance. Allerdings würden wir dann Liam einweihen müssen. Immerhin wusste er, dass wir für irgendetwas Ariadnes Akte hatten und er hatte uns helfen wollen. Desdemona würde mir widerwillig zustimmen müssen.

Vorsichtig ging ich auf Ariadne zu, auch wenn Liam mich zurückziehen wollte. Ich kniete mich neben ihr hin. Sie hielt ihren Blick gesenkt. Wieder einmal hatte ich ihr bewiesen, dass ich stärker war und ich wusste, dass ich sie wieder an ihre Angst erinnert hatte. Im Moment würde sie nicht versuchen, mir etwas zu tun.

"Ariadne?", versuchte ich es vorsichtig. Sie antwortete mir nicht. Natürlich. Was hatte ich denn auch erwartet? Allerdings konnte ich ihre Schwäche momentan nutzen. "Was ist das erste, was dir einfällt, wenn du das Wort 'Drillinge' hörst?" Abwartend sah ich sie an. So konnte ich vielleicht erkennen, wie sie zu ihren Geschwistern stand. Wenn sie allerdings "Hass" sagen würde, wüsste ich auch nicht weiter.

"Zusammenhalt.", nuschelte Ariadne, die sich gerade in ihrer eigenen Welt befand. Kurz darauf fasste sie sich wieder und sprang auf. Ich erhob mich schnell wieder.

"Wieso fragst du mich das?" Sie klang wütend. "Was soll das alles überhaupt?!" Sie schnappte sich die Akte und ging einfach davon.

Ein Lächeln lag auf meinen Lippen. Desdemona kam auf mich zu.

"Warum lächelst du?"

"Ich weiß, wie wir sie zu Vernunft bringen können."

Sie sah mich fragend an. "Aber wir wissen doch gar nicht, wie sie zu ihren Geschwis-"

"-Doch. Wissen wir."

"Ach ja?"

"Ja." Zuversichtlich sah ich Desdemona an. "Vertraue mir einfach."

"Das tu ich.", sagte sie. "Also. Wo fangen wir an?"

"Wir fragen deine Tante, ob sie etwas zum Aufenthalt der Drillinge weiß. Notfall sagt sie uns die Adresse von Harvey und Erin Glacial. Ich bekomme die Antwort schon aus ihnen heraus."

Desdemona nickte begeistert. "Wann legen wir los?"

"Am besten jetzt gleich!"

Wir wollten uns schon auf den Weg machen, als Liam uns aufhielt. "Wo wollt ihr denn hin? Was habt ihr vor?"

Desdemona und ich sahen uns an. Wir beide nickten und drehten uns zu ihm um.

"Wirst du uns helfen?"

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