Kapitel 78.6 - Der Sturm

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Abrupt riss sie ihren Blick von dort ab, wo die in Flammen stehenden Gestalt verschwunden war. Sie sah zu mir. Sah einfach zu mir. Nachdenklich. Vielleicht auch mit Schuldgefühlen. Wieso hatte meine Mutter ein schlechtes Gewissen? Und weswegen überhaupt?

Mit langsamen Schritten kam sie auf mich zu. Sie ignorierte die brennenden, schreienden Gestalten im Hintergrund. Vorsichtig kniete sie sich vor mir hin. Ihr Blick war entsetzlich leer und fern. Die böse Vorahnung wollte mich einfach nicht verlassen.
Meine Mutter streckte ihre Hand nach mir aus und strich mir sanft über das schwarze Haar. Misstrauisch sah ich sie an. Etwas stimmte mit ihr nicht. Etwas, das ich schon längst hätte bemerken müssen. Etwas, das meine Mutter vor uns allen verbarg.
Rhea seufzte tief. "Es tut mir so leid, Mika. Es tut mir so unendlich leid.", sagte sie leise. So leise, dass niemand sie hören konnte. Niemand außer mir. Mein ungutes Gefühl stieg durch ihre Worte nur weiter an. "Es ist alles meine Schuld. Wegen mir musstest du so viel durchmachen. Obwohl ich nie in deiner Nähe war, habe ich dazu beigetragen, dass du so viel Leid ertragen musstest." Was verängstigte mich mehr? Ihre Worte, oder ihr leerer Blick?
"Wovon redest du?", fragte ich. Meine Stimme zitterte leicht. Was ging hier vor?
Ein leichtes, trauriges Lächeln legte sich auf die Lippen meiner Mutter. "Das wirst du vermutlich bald erfahren. Vielleicht wird es dir auch Damon erzählen." Ihr Blick glitt wieder zu der Stelle, an der die flammende Gestalt gestanden hatte. "So wie es aussieht, hat er es nämlich herausgefunden." Schwermütig glitten ihre Augen zu mir. Eingehend betrachtete sie mein Gesicht. "Ich hoffe nur, dass du mir all das verzeihen kannst." Und mit diesen Worten erhob sie sich. Sie warf mir keinen einzigen Blick mehr zu. Lief genau auf eine große Gruppe von Jägern zu.

"Mum!", rief ich ihr hinterher. Sie ignorierte mich. Was zur Hölle hatte sie vor? Ja, sie war gut. Aber so gut? Wie wollte sie alleine gegen so viele Jäger ankommen? Gegen die kleineren Gruppen: okay. Aber das? Das war reiner Selbstmord.

Mit wackeligen Beinen stand ich auf. Kurz sah ich an mir runter. Meine Kleidung war ziemlich zerfetzt. Dennoch hatte der gebündelte Strahl nicht so viel Schaden angerichtet, wie ich es erwartet hatte. Anscheinend hatte ich doch noch genug Energie übrig gehabt, um mich so gut es ging weiter zu schützen. Ich entdeckte zwar einige Wunden, verbrannte Haut und Blut, doch das würde heilen. Den Schmerz spürte ich nicht. Jedenfalls nicht mehr. Er war wie weggeblasen.

Ich versuchte meiner Mutter hinterherzulaufen, wollte sie wegziehen, aufhalten, in ihr eigenes Verderben zu laufen. Aber meine Kraft war noch nicht zurück. Strauchelnd fand ich noch gerade rechtzeitig meinen Weg zu dem nächstbesten Baum, an dem ich mich festhalten konnte. Ich konnte wohl von Glück reden, dass ich mich gerade in der Nähe des Waldes befand.

Verzweifelt sah ich meiner Mutter nach. Ich war vollkommen hilflos, musste tatenlos zusehen und konnte nichts dagegen tun. Überall um mich herum kämpften Jäger gegen Elementary und Obscura. Niemand beachtete mich mehr. Ich war geschwächt. Von mir ging keine Bedrohung mehr aus. Und weglaufen konnte ich auch schlecht. Die Jäger würden sich später um mich kümmern, wenn sie den Rest ausgeschaltet hatten.

In der Gruppe, die meine Mutter ansteuerte, bemerkte ich einen alten Mann. Er war um die siebzig und das wenige Haar auf seinem Kopf, hatte bereits vor langer Zeit all seine Farbe verloren. Obwohl er so alt war, strahlte er etwas Bedrohliches aus. Seine Miene war eisern und entschlossen. Mir fiel ein, was Damon mir in seiner Zelle gesagt hatte. Dieser alte Mann musste Edgar Mitchell sein. Der Anführer der Jäger. Der Mann, der mich auch schon in Damons Erinnerungen begegnet war.

Als dieser meine Mutter bemerkte, erschien ein breites Grinsen auf seinen schmalen Lippen. Doch es war kein freundliches Grinsen. "Rhea Lunar-Eclipse! Welch eine Freude!", rief er aus und mit einer kurzen Handgeste, gingen die Jäger auseinander, um Edgar Platz zu machen. Mit einer düsteren Gelassenheit schritt er durch den nun frei gewordenen Gang auf meine Mutter zu. "Ich bin überrascht, dass du alleine zu mir kommst. Wo ist deine allmächtige Tochter, die uns vernichten soll?", spottete er. Meine Mutter verzog keine Miene. Dennoch konnte ich die Entschlossenheit spüren, die von ihr ausging. Sie würde nicht zögern. Sie würde alles geben.
"An deiner Stelle würde ich nicht so siegessicher sein.", meinte Rhea. Mehr sagte sie nicht. Stattdessen breitete sie ihre Arme aus.
Edgar fluchte leise. "Tötet sie.", befahl er seinen Jägern. "Und nehmt euch danach ihre Tochter vor. Ich will nicht, dass sie sich gleich doch noch erholt und uns alle vernichtet!"

Die Macht, die nun so plötzlich von meiner Mutter ausging, war unglaublich. Sie nahm einem die Luft zum Atmen. Jeder konnte sie spüren. Jeden schien sie zu erdrücken. Und niemand hatte sie jemals bemerkt.

Anders als die anderen Obscura, wartete sie nicht darauf, dass die Jäger ihr Element heraufbeschworen, sie sog es einfach aus ihnen heraus. Sie sog ihnen ihre Kraft aus den Adern.

Ungläubig starrte ich Rhea an. Wieso hatte sie nie etwas gesagt? Hatte überhaupt jemand davon gewusst? Und vor allem: Wieso fühlte sich ihre Kraft so viel mächtiger an, als die meine? Ich war es doch, deren Fähigkeiten so mächtig sein sollten. Hatten wir uns etwa alle geirrt?

Das schien wohl auch Edgar zu denken. Die Farbe wich ihm aus dem Gesicht. Er erbleichte. Seine Augen weiteten sich. Endlich schien er seinen Irrtum zu bemerken. Im letzten Moment. Viel zu spät, als dass er irgendetwas dagegen tun könnte. Er riss seinen Mund weit auf, wollte eine Warnung schreien, doch dazu sollte es nicht mehr kommen.

Die Kraft der anderen Jäger, die meine Mutter sich zu eigen gemacht hatte, schoss auf Edgar zu. Hell und strahlend. Von all dieser Macht geblendet, schlossen alle ihre Augen. Edgar würde niemals schreien. Er war tot, noch bevor sein Körper zu fallen begann.

Als das blendende Licht erlosch, stand meine Mutter noch immer unverändert an ihrem Platz. Der einzige Unterschied zu vorher, war, dass ihre Augen nun komplett schwarz waren. Doch anders als alle anderen Obscura, hatte sie die sofortige Kontrolle. Rhea wirkte wie ein Dämon, der aus der Hölle empor gestiegen war, um die Jäger und alle, die sich ihr in den Weg stellten, auf ewig zu verdammen. Das lag allerdings nicht nur an ihren Augen. Auch an ihrer unheimlichen Ausstrahlung. Hinzu kam noch, dass sie jedem einzelnen Jäger die Magie aus den Adern sog. Und nicht nur den Jägern. Auch mir. Obwohl ich meinen Blick nicht von meiner Mutter abwenden konnte, wusste ich, dass ich die einzige von unserer Seite war, der ihre Kraft entzogen wurde. Zwar nicht all meine Kraft, aber doch ein gewaltiger Teil davon.

Entsetzt versuchte ich mich dagegen zu währen, doch es war erfolglos. Ich versuchte panisch meine Magie festzuhalten, sie zurück zu ziehen. Mein Widerstand war kein Hindernis für meine Mutter. Und dann, urplötzlich, explodierte alles.

Rhea, die noch immer mit ausgebreiteten Armen auf dem Gelände stand und sich die Magie der Jäger zu eigen machte, ließ alles im Chaos der Elemente aufgehen. Leuchtend hell schoss die Magie aus ihr heraus und die Druckwelle folgte. Mähte alles nieder. Ihre rasende Macht war unbezwingbar. Die aufkommenden Schreie der Panik und des Schmerzes verstummten schlagartig. Und alles war still.

Innerhalb eines Wimpernschlages war alles vorbei. Das helle Licht verblasste und gab mir den Blick auf die unzähligen Leichen frei. Überall lagen leblose Körper. Und in alle dem, stand meine Mutter. Gleichgültig. Mit einem Ausdruck in den tiefschwarzen Augen, der mich erzittern ließ.

Die übrigen Elementary, wie auch Obscura starrten voller Entsetzen zu Rhea. Angst ließ sich in ihren geschockten Gesichtern erkennen. Niemand hatte das hier erwartet. Nichts in dieser Art.

Ich spürte Desdemonas ungläubigen Blick auf mir. Natürlich. Sie hatte erwartet, dass ich es sein würde, die das alles hier zu Ende brachte. Doch letzten Endes, war es Rhea und nicht Mika Lunar-Eclipse. Sie war es, die alle überrascht hatte. Vor allem mit ihrer Macht, ihrer Stärke.

Und ich fragte mich noch immer, wie das möglich sein konnte. Doch ich würde wohl niemals eine Antwort bekommen. Denn eine Gestalt tauchte aus den Tiefen des Waldes auf. Überrascht betrachtete ich den jungen Mann mit den Haaren, die in der Sonne wie Feuer aussahen. Ich hatte erwartet, dass er das Weite gesucht hätte, nachdem ich ihn aus seiner Zelle befreite. War er es also, der mich vorhin gerettet hatte?
Doch Damon beachtete mich gar nicht. Seine Augen lagen fokussiert auf Rhea. Der Ausdruck auf seinem Gesicht war stählern. Nichts an ihm verriet, was er dachte oder fühlte. Jedoch konnte ich sehen, wie er handelte. Beinahe lautlos bewegte er sich auf Rhea zu. Sie bemerkte ihn nicht. Sie war viel zu sehr damit beschäftigt, mit düsterer Zufriedenheit auf die unzähligen Leichen zu sehen. Zu spät entdeckte ich das geschärfte Messer in Damons Hand. Bevor ich einen Warnruf ausstoßen konnte, blitzte das Metall hell in der Sonne auf. Noch ehe irgendjemand etwas verhindern konnte, bohrte es sich in Rheas Körper.

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