Kapitel 3.2 - Der Brief und die Wahrheit? ✅

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»Elementare sind wie Menschen.«, erklärte mir meine Adoptivmutter. »Eigentlich sehe ich keinen Grund, sie nicht auch als Menschen zu bezeichnen. Das Einzige, das uns wirklich von den Menschen unterscheidet, ist die Fähigkeit, ein Element zu bändigen. Daher auch der Begriff 'Elementar'. Allerdings gibt es auch Unterschiede zwischen den Elementaren, wie du es dir sicherlich denken kannst. Da es vier verschiedene Elemente gibt, gibt es auch vier verschiedene Gruppen von Elementaren: Luftbändiger, Feuerbändiger, Erdbändiger und Wasserbändiger.« Sie machte eine Pause und musterte mich forschend.

Vermutlich wollte sie sichergehen, dass es mir nicht alles zu viel war und dass ich mitkam. Darum nickte ich nur einmal nachdenklich. Das war ganz schön viel zu verdauen. Hanne konnte ich vertrauen. Sie würde sich über so etwas keinen Scherz erlauben. Aber das bedeutete auch, dass mein Angreifer nur einer von vielen war. Und er war allen Anschein nach ein Feuerelementar.

»Und was für ein Elementar bist du?«, schoss mir plötzlich die Frage in den Kopf. Schließlich hatte sie 'uns' gesagt, als sie von den Elementaren gesprochen hatte. Also war sie auch einer. Aber wieso hatte sie mir das nie gesagt? Sogar in dem Brief, der womöglich von meinem Vater oder meiner Mutter war, hatte gestanden, dass er oder sie ein Elementar war. Weshalb also hatte Hanne mir nichts gesagt? Ihr hätte doch klar sein müssen, dass ich höchstwahrscheinlich genauso wie meine Eltern sein würde.

»Ich bin ein Erdelementar.«, sagte meine Mutter und ein seichtes Lächeln zupfte an ihren Mundwinkeln. »Wie der Begriff schon andeutet, bin ich dazu in der Lage, die Kraft der Erde zu beherrschen.« Die Kraft der Erde also. Was genau konnte ich mir darunter vorstellen? Meine Mutter, die meinen ahnungslosen Blick bemerkte, antwortete: »Die Kraft der Erde ist vielfältig. Von Pflanzen wachsen lassen, bis hin zu Erdbeben heraufbeschwören, ist einiges dabei. Tatsächlich gehört sogar auch das Heilen von Wunden dazu. Jedoch beherrschen das nicht alle Erdelementare.«

Bei ihrer Erzählung musste ich erst einmal schlucken. Vor wenigen Stunden hätte ich sie noch für verrückt gehalten. Und mich gleich mit dazu. Wenn ich schon geglaubt hatte, dass es merkwürdig war, die Klausuren eines anderen abzuschreiben ohne in der Nähe zu sitzen, was war dann das hier? Mein kleiner Ausrutscher während der Klausur war nichts hiergegen.

Vorsichtig setzte ich zum Sprechen an. »Und ich soll auch ein Elementar sein?« Allerdings hätte ich mir diese Frage auch direkt sparen können. Zumal das nun auch endlich erklärte, wie das mit dem Abschreiben funktioniert hatte. Trotz allem wirkte es noch immer unwirklich.

Hanne nickte, während sie mir sanft mit dem Daumen über den Handrücken fuhr. »Das bist du.«, bestätigte sie mir. »Und es hat auch irgendetwas damit zu tun, dass deine leiblichen Eltern dich weggegeben haben. Leider kann ich dir nicht sagen, was der Grund war, aber ich schätze, dass du bei ihnen - weshalb auch immer - nicht sicher warst.« Vorsichtig hob ich meinen Blick. Vielleicht war ich doch nicht ganz so ungewollt, wie ich vorher noch geglaubt hatte. Konnte es wirklich sein, dass es einen guten Grund dafür gab, dass ich bei Hanne aufwuchs? Allerdings wusste ich nicht, ob ich den Grund wirklich wissen wollte. Jedoch konnte dieser wirklich wichtig sein. Was, wenn ich in Gefahr war? Unwillentlich schwenkten meine Gedanken zu dem Jungen aus dem Wald. Hing sein Angriff auf mich etwa mit der ganzen Sache zusammen? Außerdem hatte er mich nach meinen Eltern gefragt. Womöglich hatte er tatsächlich nicht die falsche Person aufgegriffen. Ein eisiger Schauer ließ mich kurz erzittern. Wo war ich hier nur herein geraten?

»Gibt es gefährliche Elementare?«, traute ich mich zu fragen. Dabei musste ich mich wirklich zusammenreißen. Die Erinnerungen an den Jungen mit der Feuerfaust waren immer noch zu frisch.

Hanne lachte leise. Doch es klang alles andere als amüsiert. »Gefährlich sind wir alle, Schatz. Es kommt darauf an, wie wir uns entscheiden.«, sagte sie und klang dabei ungewollt weise. Hätte ich mich in einer anderen Situation befunden, hätte ich jetzt gelacht. Aber ich befand mich in keiner anderen Situation. Allein darum blieb ich ernst. »Gibt es dann böse Elementare?«, formulierte ich meine Frage um, wobei ich mir recht lächerlich vorkam. Unsere Welt teilte sich nicht einfach nur in gut und böse. Zu glauben, dass es so wäre, wäre kindisch.

»Mika, überall auf der Welt gibt es böse Leute. Egal, wohin du gehst. Ein Mensch kann ebenso grausam sein. Es gibt nicht bloß schwarz und weiß. Es gibt noch so viel mehr dazwischen.«, sagte meine Mutter mit belegter Stimme. »Allerdings gibt es eine Gruppe von Elementaren, die andere Elementare jagen und töten. Ob sie es tun, weil sie alle Macht für sich gewinnen wollen oder weil sie einen tieferen Sinn darin sehen ,kann ich dir beim besten Willen nicht sagen. Allerdings wurden vor einigen Jahren viele Elementare, die als äußerst mächtig galten, von ebendieser Gruppe verfolgt und anschließend getötet.«

Ein fester Kloß bildete sich in meinem Hals. Das klang grausam. So weit würden Leute gehen, nur für Macht? Eine andere Erklärung konnte ich nicht finden. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass Leute einen tieferen Sinn darin sehen könnten, anderen Elementaren das Leben zu nehmen, wie Hanne vermutete. Welcher vernünftige Mensch tat so etwas?

Jedoch musste ich erneut an den Jungen mit den schwarzen Augen denken. Hatte er nicht davon gesprochen, dass er meine Macht sehen wolle? Und mich letztendlich als nutzlos bezeichnet, da ich keine Macht besaß?

Wie konnte es sein, dass ich ein Elementar war, wenn ich überhaupt nichts aufwies, was dem gerecht kam? Abgesehen von den wenigen Momenten, in denen ich die Perspektive von jemanden, der sich in meiner Nähe befand, übernommen hatte und durch dessen Augen geblickt hatte, war nie etwas Außergewöhnliches gewesen. Das war gar nichts im Gegensatz zu dem, was Hanne konnte. Und vom Abschreiben abgesehen, war es auch nicht weiter nützlich. Vielleicht hatten meine Eltern mich einfach abgegeben, weil sie starke Elementare waren und verfolgt wurden. Vielleicht wussten sie, dass ich zu schwach war und mich nicht verteidigen könnte.

»Werde ich auf dieses Internat gehen?«, fragte ich unsicher. War das wirklich das Richtige für mich? Hätte ich nicht schon vor Jahren mehr als bloß meine nutzlose Fähigkeit aufweisen müssen? Zudem war sie mir nicht einmal wirklich aufgefallen.

»Natürlich.«, erwiderte meine Mutter überrascht. »Immerhin muss dir gezeigt werden, wie du richtig mit deinen Fähigkeiten umgehst. Du musst sie doch kontrollieren können.«

Tatsächlich zweifelte ich noch immer. Wenn da kaum Fähigkeiten waren, weshalb sollten sie unterrichtet werden? Genauso gut konnte ich hier bleiben. Aber wollte ich das? Natürlich wollte ich mehr über diese mir neue Seite der Welt erfahren. Das wäre vermutlich auch besser, wenn ich an den Angriff dachte. Irgendwie musste ich mich schließlich schützen können. Außerdem wurde mir ganz mulmig, wenn ich daran dachte, am Montag wieder in die Schule zurückzukehren. Ich hatte nicht wirklich Lust darauf, Miss Collins wiederzusehen und auf eine wütende Josie konnte ich auch verzichten.

Ein Funken Hoffnung keimte in mir auf. Ich hatte die Chance auf einen Neuanfang. Niemand würde mich kennen. Niemand hätte irgendwelche Vorurteile. Und da alle anderen Schüler Elementare wären, wären sie genauso Außenseiter wie ich.
»Deine Kräfte müssen unterrichtet werden.«, sagte meine Mutter. »Ich weiß zwar auch, dass du bisher nur eine Fähigkeit gezeigt hast, doch das kann sich noch ändern. Vielleicht brauchst du auch nur ein bisschen Zeit.« Zweifelnd zog ich eine Augenbraue hoch. Zeit? Wohl kaum. Ich war sechzehn Jahre alt. Wie viel Zeit würde ich bitte brauchen? Außerdem sah ich Hanne an, dass sie selbst nicht ganz an ihre Worte glaubte.

»Was ist das Durchschnittsalter, indem die Elementare ihre Fähigkeiten entdecken?«, wollte ich wissen. Innerlich hoffte ich, dass ich noch im gewöhnlichen Rahmen lag. Als ich jedoch den Gesichtsausdruck meiner Mutter sah, sanken meine Mundwinkel.

Hanne räusperte sich. »Hm. Eigentlich zeigen sich die Fähigkeiten eines Elementars zwischen seinem fünften und zehnten Lebensjahr. Und innerhalb dieses Zeitraums zeigen sich normalerweise alle Fähigkeiten. Nicht bloß eine einzige.«, gab sie zu. Seufzend beschloss ich, dieses Thema ruhenzulassen und meine nächste Frage zu stellen, die mir schon länger auf der Zunge brannte. Und diese war gar nicht mal so unwichtig.
»Und was für ein Elementar bin ich?« Mit nervös flatterndem Herzen wartete ich auf die Antwort. Leider war ich bisher noch nicht darauf gekommen. Dass ich durch die Augen verschiedener Leute sehen konnte, schien mir ehrlich gesagt zu keinem Element zu passen. Feuer war also glücklicherweise auszuschließen. Alles andere leider auch.
Auch Hanne wirkte überfordert. »Das weiß ich nicht.«, gab sie zu, wobei sie mitleidig wirkte.
»Wie wollen sie mich dann unterrichten?«


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