Kapitel 79.2 - Die Leere danach und die endgültige Aufklärung

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Emotionslos starrte ich auf die Leiche meiner Mutter. Reglos lag sie im blutroten Gras und blickte in die Leere. Kaum war das Leben aus ihrem Körper gewichen, spürte ich, wie der Großteil meine Obscuramagie endgültig verschwand. Ebenso bemerkte ich, wie mein Sichtfeld immer kleiner wurde, bis nur noch etwa die Hälfte davon übrig war. Doch das interessierte mich nicht. Es war nur eine weitere Nebenwirkung der Taten meiner Mutter.
Mit einer innerlichen Leere betrachtete ich den leblosen Körper der Frau, die mein Leben um einiges schwieriger gestaltet hatte. Deren Schuld es war, dass ich war, wie ich nun einmal war. Wenn ich mir durch den Kopf gehen ließ, was alles anders gelaufen wäre, hätte sie mich mit Hilfe ihrer Kraft nicht verdammt. Dann hätte ich es ihr sogar verzeihen können, dass sie mich weggegeben hatte. Aber auf diese Weise? Nein. Ich konnte nicht entschuldigen, was Rhea getan hatte. Ich konnte ihr nicht verzeihen. Und ich wusste auch nicht, ob ich das jemals können würde. So viel war schief gelaufen. Im Nachhinein war alles ihre Schuld. Alles.

Langsam erhob ich mich. Versuchte, nach meiner Magie zu greifen. Ich spürte ein leises Flackern innerhalb meines Körpers. Doch ansonsten war da nichts. Es war zu nichts zu gebrauchen. Ich würde niemals mehr in die Köpfe anderer Leute sehen. Würde niemandem mehr mit Hilfe meines Blickes Schmerzen zufügen.
Meine Obscuraseite war beinahe nutzlos. Also stand ich wieder komplett auf Null. Nun würde ich mich auf meine Hexen- und meine Vampirseite verlassen müssen. Und ich hatte kaum Erfahrungen damit, da ich mich zum Großteil nur auf meine Obscuraseite verlassen hatte. Die beiden anderen Seiten waren mir beinahe gänzlich unbekannt. Mein Blick legte sich auf das Schloss. Ich würde nicht weiterhin auf das Internat gehen können. Dort gab es für mich nichts mehr zu lernen. Niemand konnte mir beibringen, wie ich meine anderen Seiten zu nutzen hatte. Die Einzige, die das gekonnt hätte, war tot und hätte sich mir niemals offenbart, wäre dieser Tag nicht gekommen. Oder ihr Tod.

Ich war auf mich gestellt. Musste selbst die unerforschten Kräfte erkunden. Musste selbst lernen, wie ich mit ihnen umzugehen hatte. Und kein Elementary- oder Obscurainternat der Welt konnte mir dabei helfen.

"RHEA!", hörte ich auf einmal meinen Vater schreien, der auf uns zu gerannt kam und sich neben seiner toten Frau auf die Knie warf. "RHEA!" Mein Vater packte seine Frau an den Schulter und began ihren leblosen Körper zu schütteln. Schweigend saß ich daneben. Ich kam mir irgendwie fehl am Platz vor. Zumal ich die Trauer meines Vaters noch nicht einmal wirklich teilen konnte. Schluchzend brach mein Vater neben meiner Mutter zusammen. "Rhea!", wimmerte er. Immer und immer wieder. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Wahrscheinlich hätte ich ihn trösten sollen. Aber wie? Mir fielen keine Worte ein, die den Schmerz meines Vaters hätten lindern können.

Irgendwann richtete sich mein Vater halbwegs auf und sah zu mir. Tränen strömten unkontrolliert über sein Gesicht und seine Augen spiegelten seinen Schmerz wieder. "Was ... Was hat sie zu dir gesagt?", wollte er mit bebender Stimme wissen. Er sah gebrochen aus.
Sollte ich ihm wirklich sagen, was sie mir erzählt hatte? Was sie mir angetan hatte? Würde er mir überhaupt glauben?

"Es war die ganze Zeit über sie.", brachte ich heraus. Meine Stimme war tonlos und mein Blick leer. "Sie war die mächtigste Obscura. Nicht ich. Es war niemals ich. Sie sagte mir, ich sei als Baby so unglaublich schwach gewesen. Und bevor sie mich weggab, schob sie mir einen Teil ihrer Kraft in den Körper, um mich zur Zielscheibe der Jäger zu machen. Damit niemand sie und ihre Macht bemerkte. Damit sie sich auf mich konzentrierten." Ich achtete nicht auf die Reaktion meines Vaters. Nicht einmal darauf, ob er mir glaubte. "Sie ist Schuld an allem, was mein Leben bisher schwer gemacht hat. Und nun, da sie tot ist, ist auch ihre Kraft in mir fort." Ich machte mir nicht die Mühe, ihm durch meine Erinnerungen zu zeigen, dass das die Wahrheit war. Es würde vermutlich sowieso nicht funktionieren. Wortlos erhob ich mich, wandte der Leiche meiner Mutter den Rücken zu und lief zum Wald. Ich brauchte Ruhe. Ruhe von allem. Außerdem musste ich mir erst einmal über meine eigenen Gedanken klar werden.

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