Kapitel 77.4 - Die Ruhe vor dem Sturm

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Ein Lächeln erschien auf meinen Lippen. Meine Hang legte sich auf Hannes Schulter und ich schob sie ein klein wenig vor. Man musste kein Obscura sein, um zu erkennen, dass die Nervosität Hanne fest in ihrer Hand hatte. "Das, Will, ist Hanne Teck. Meine Adoptivmutter.", stellte ich Hanne vor. "Und das" Ich deutete auf Will. "Ist mein Bruder Will."

Hanne, deren Herz nervös flatterte, schaffte es, Will ihre Hand zu reichen und freundlich zu lächeln. "Hallo, Will.", sagte sie mit einer erstaunlich festen Stimme.  Nun erhob mein Bruder sich von seinem Stuhl und ergriff Hannes ausgestreckte Hand, die er mit einem sympathischen Lächeln schüttelte. "Es ist schön, Sie endlich kennenzulernen.", sagte er.

Ich bemerkte, wie meine Mutter Hanne anstarrte. Keinerlei Emotionen waren in ihrem Gesicht zu erkennen. Dennoch bemerkte ich ihre innerliche Zerrissenheit. Trotzdem war sie nach Will die erste, die sich erhob, um Hanne zu begrüßen. Beinahe sofort lag Hannes Blick auf ihr. Die Nervosität hatte ihren Höhepunkt erreicht. Beide Frauen standen sich jetzt gegenüber. Zum ersten mal. Auf der einen Seite stand meine leibliche Mutter. Die Familie hinter ihr. Und auf der anderen Seite stand die Mutter, die ich mein Leben lang gekannt hatte.
Sie musterten einander eingehend. Auf beiden Seiten spürte ich Unsicherheit und Zwiespalt. Weder meine Rhea, noch Hanne wusste, was sie von der jeweils anderen Frau halten sollte. Hinzu kamen noch die unterbewussten Verlustsängste. Beide fürchteten, dass die andere dazu beitragen würde, mich ihr wegzunehmen.

Schließlich war es meine leibliche Mutter, die den ersten Schritt wagte. Ihre Miene war kühl und beherrscht, als sie mit einer ruhigen Stimme zu sprechen begann. "Mein Name ist Rhea Lunar-Eclipse.", stellte sich meine Mutter Hanne vor. "Vielleicht erinnern Sie sich an mich, vielleicht auch nicht. Jedenfalls bin ich Ihnen sehr dankbar, dass sie Mika damals aufgenommen und großgezogen haben." Sie reichte Hanne nicht ihre Hand. Es bliebt bei dem Dank. Mehr wäre für beide Frauen vielleicht auch zu viel gewesen. Oder sie hätten sich unwohl gefühlt. Das hier war ein großer Schritt. Vermutlich hatten beide niemals geglaubt, der anderen wirklich eines Tages gegenüber zu stehen. Und schon gar nicht hätten sie mit dieser Gefühlsflut gerechnet, die die beiden zu überschwemmen drohte.

"Ich konnte sie doch nicht einfach da liegen lassen und so tun können, als wäre sie nie dort gewesen.", meinte Hanne, doch Rhea schüttelte ihren Kopf.
"Das vielleicht nicht. Doch Sie hätten sie in ein Waisenhaus geben können oder in eine Babyklappe legen können.", widersprach meine Mutter. "Das, was sie für Mika getan haben, war alles andere als selbstverständlich." Sie ließ sich keine Gefühlsregung ansehen. Sie ließ es gar nicht erst zu, dass sie darüber nachdachte. Ganz anders, als bei mir. Als sie und ich uns zum ersten mal seit vielen, vielen Jahren ansahen.
So hatte ich sie noch nicht gesehen. Aber ich behauptete auch gar nicht, dass ich meine Mutter bereits kannte. Auf eine gewisse Weise war sie nach wie vor eine Fremde.
Hanne runzelte die Stirn. Je länger sie meine Mutter betrachtete, desto nachdenklicher wurde sie. Und das schon, seit meine Mutter ihr offenbart hatte, dass sie einander bereits begegnet waren.
"Tut mir leid, aber woher kennen wir einander?", fragte Hanne, der das Ganze einfach keine Ruhe ließ. "Damals, als ich Ihren Brief gelesen habe, war mir Ihre Schrift bekannt vorgekommen."
Rhea strich sich mit einer kurzen Geste ihr schwarzes Haar aus dem Gesicht, bevor sie antwortete. "Ich war genau wie Sie auf dem Elementary Internat. Jedoch ein Jahr über Ihnen. Ich habe Ihnen in Ihren ersten zwei Jahren Nachhilfe im Kampftraining gegeben. - Erinnern Sie sich, Hanne?" Meine Mutter betrachtete Hanne und wartete auf deren Reaktion. "Es wäre auch nicht schlimm, wenn Sie sich nicht erinnern. Schließlich ist es lange her um auch nur alle paar Wochen. Damals ging ich auch unter einen anderen Namen zur Schule."

Auf einmal spiegelte sich in Hannes Augen die Erkenntnis. Ihr Mund öffnete sich leicht und sie starrte Rhea ungläubig an. "Bria?", fragte sie erstaunt. "Bria Benson?" Und meine Mutter nickte. Fassungslos schüttelte Hanne ihren Kopf. "Unglaublich!", murmelte sie. "Einfach unglaublich."

"Nun reicht es aber, Rhea!", mischte sich nun Cecile ein. "Du bringst sie ja ganz aus der Fassung!" Sie erhob sich aus ihrem Stuhl und zog ihre Tochter wieder zurück. "Vergiss nicht, was diese Frau für dich getan hat! Sei nicht so unhöflich! Ich habe es dir anders beigebracht."
"Entschuldigung.", sagte meine Mutter und sah mich betroffen an, ehe sie sich wieder setzte. Anders als meine Mutter, zog Cecile Hanne überschwänglich in ihre Arme. Hanne war viel zu überrascht von dieser Geste, als dass sie sie erwidern konnte.
"Ich spreche wohl für alle, wenn ich dir sage, wie dankbar ich dir bin, dass du meine Enkelin bei dir aufgenommen hast!", sagte Cecile. "Ich kann mich gar nicht genug bei dir bedanken oder mich erkenntlich zeigen. Nichts würde jemals auch nur im entferntesten ausreichen!"
Cecile ließ von Hanne ab und lächeltet sie breit an. Sie strahlte beinahe. Hanne wank mit roten Wangen ab. "Bitte. Bei Ihnen klingt es ja so, als hätte ich die Welt gerettet ..."
Doch Cecile schüttelte den Kopf. "Sag so etwas nicht. Denn vielleicht hast du das." Sie warf mir einen kurzen Blick zu und ich wandte meinen Blick ab.

Wieso erwarteten sie alle so viel von mir? Es war doch gar nicht sicher, dass ich überhaupt helfen konnte. Nach dem, was Manou gesagt hatte, war ich sogar alles andere als unsere Rettung. Wieso musste ausgerechnet mir so eine Last auf die Schultern gebunden worden sein? Meine Laune sank. Sie alle setzten viel zu große Stücke auf mich. Das wollte ich gar nicht. Sie taten so, als sei ich ihre letzte, erfolgversprechende Hoffnung. Aber was, wenn ich das nicht war? Dieser Druck der Erwartungen ... Er drohte mich unter sich zu begraben.

Plötzlich ertönte ein lauter, lang gezogener, schriller Schrei. Augenblicklich verstummten alle Gespräche im Saal. Fragend sahen die Leute einander an. Doch niemand kannte die Antwort, auf das, was alle wissen wollten.

Mehrere Sekunden verstrichen, in denen es totenstill war. Als fürchteten alle,  dass das Chaos ausbrechen würde, würde jemand auch nur einen Ton von sich geben. Es kam mir vor wie Stunden. Nachdem der Schrei verklungen war, geschah nichts. Gar nichts. War es ein Streich? Oder hatte sich jemand bloß erschreckt? War es etwas Harmloses und nicht das, was ich glaubte? Ich konnte nur hoffen, dass es nicht das war, das ich vermutete.

Auf einmal, brachen alle zur selben Zeit in lautes Gemurmel aus. Das Gemurmel wuchs und wurde zu verstörten Rufen. Niemand wusste, was vor sich ging und niemand wollte herausfinden, was genau den Schrei erzeugt hatte.

"Wer war das?", fragte Will mit gerunzelter Stirn. Er hatte sein Glas beiseite gelegt und sich mit seinem Oberkörper halb zur verschlossenen Tür gedreht.
"Keine Ahnung.", sagte ich mit einem mulmigen Gefühl im Margen.

Der Geräuschpegel in der Halle stieg immer weiter an. Viele diskutierten wild miteinander und deuteten immer wieder in Richtung der Tür.

"Sollte nicht jemand mal nachsehen?", brummte Arthur, der sich von der ganzen Aufruhr um ihn herum nicht beeindrucken ließ. "Jemand könnte sich verletzt haben." Er war wohl der Einzige, der sich weiterhin ruhig und gelassen seinem Tee und seinem Essen widmete. Wie konnte er ruhig bleiben? Allein die Unruhe der anderen steckte mich an und ließ mich misstrauisch zur Tür schauen. Arthur, der meinen Blick zu bemerken schien, zuckte mit den Achseln.
"Kindchen, lass dich nicht von den anderen anstecken.", meinte er gleichgültig. "Das macht dich nur verrückt." Dann widmete er sich wieder seinem Frühstück. War die Ruhe selbst.

Kaum hatte ich mich entschieden, seinem Beispiel zu folgen, wurde die Tür des Speisesaals aufgeworfen. Schatten strömten mit so einer Kraft hindurch, das beide Türhälften mit lautem Krack gegen die Wand schwangen. Schlagartig wurde es ruhig im Saal. Alle Augen waren auf die offene Tür gerichtet und das Mädchen, das dort stand.

Desdemona blutete. Ein rotes Rinnsal floss ihr von der Stirn bis über die Wange. Sie war es, die geschrien hatte. Sie keuchte schwer. Scheinbar hatte sie einen Sprint hingelegt, um rechtzeitig hier her zu kommen. In ihren Augen stand die Panik geschrieben. Jedoch warf sie keinen Blick zurück.

"Sie sind hier!", rief sie. Ihre Schatten sammelten sich. Bereit für den Angriff. Erst war es still in der Halle. Doch dann brach das Chaos aus. Niemand hatte damit gerechnet. Niemand war vorbereitet.
Eltern schrien sich gegenseitig Befehle zu, scheuchten ihre Kinder voran, redeten auf sie ein. Der ein oder andere Schüler begann zu schluchzen. Andere wiederum waren ganz erstarrt.

Die Jäger waren zu früh.

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