Kapitel 12 - Danach ✅

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»Verdammt, was ist passiert?« Die Stimme war laut und aufgewühlt. Dabei wollte ich doch bloß schlafen. Ich war so müde. So unglaublich müde. Wieso ließ man mir die zuvor wunderbare Ruhe nicht einfach? Gerade jetzt hätte ich sie gut gebrauchen können.

»Bitte, Will. Bleib ruhig.«, vernahm ich eine weitere Stimme, die den Jungen, Will, beruhigen wollte.

»Wie soll ich ruhig bleiben, wenn plötzlich mitten in der Nach die Nachricht kommt, dass meine kleine Schwester im Krankensaal liegt? Wie konnte das passieren?« Will wurde immer lauter. Will, mein Bruder. Aber wer war die andere Person?

»Bitte, beruhige dich. Mit ihr ist alles in Ordnung.«, versuchte sie es.

»Wie kommt sie dann hierher?« Wills Stimme war scharf wie ein frisch geschliffenes Messer. Doch das schien die andere Person, die Frau, nicht weiter zu beeindrucken. Trotz der aufbrausenden Art meines Bruders blieb sie ruhig.

»Damon Firelight hat ihr her geholfen. Sie war schon ganz weggetreten.«, sagte die Frau. Und ehe sie fortfahren konnte, wurde sie von Will unterbrochen. Er war außer sich.

»Damon Firelight?«, rief er entgeistert. Dennoch meinte ich, Besorgnis aus seinen Worten herauszuhören. Damon war ein Jäger. Natürlich machte Will sich Sorgen, dass er hierfür verantwortlich war.

»Ja, wie ich eben sagte.«, meinte die Frau.

»Ganz sicher?«, harkte mein Bruder ernst nach.

»Ja, ganz sicher.«, bestätigte sie als sei sie die Ruhe selbst. »Und bitte sei nicht so laut. Du willst deine Schwester doch nicht wecken.«

»Was hat er mir ihr gemacht?« Wills Worte waren bedrohlich leise. Er klang so, als wäre er bereit, jemanden zu verletzen. Schwer zu verletzen. »Wenn ich den in die Finger bekomme ...« Angestrengt versuchte ich mich zu erinnern. Doch die wohlige Trägheit des Halbschlafes erschwerte mir das. Dennoch drangen ein paar Fetzen zu mir hindurch. Wurden immer mehr und setzten sich schließlich wie ein Puzzle zusammen. Gequält verzog ich mein Gesicht. Ich hatte jemanden getötet sowie Damon mich beinahe getötet hätte. Aber letztendlich hatte er es nicht getan. »Noch nicht.« Seine Worte. Worte, die mich frösteln ließen.

Ich schlug die Augen auf. Sofort lagen alle Blicke auf mir. Hell glühten die Neonröhren.
»Mika!«, rief Will erleichtert und rannte auf mein Bett zu. Stürmisch zog er mich in eine Umarmung, die ich stumm über mich ergehen ließ. Wenn er wüsste. Wenn er es wüsste, würde er angeekelt sein.

»Ich hole ihr etwas zur Stärkung.«, sagte die Frau. Ich konnte einen Blick auf sie erhaschen. Graues Haar, zu einem Knoten zusammen gebunden, weiße Kleidung, faltiges, freundliches Gesicht. Die Krankenschwester. Natürlich.

»Ich bin so froh, dass dir nichts passiert ist!«, grummelte Will in mein Haar. Bei seinen Worten wäre ich beinahe zusammengezuckt und hätte mich verraten.
Nichts passiert. Ich sog stark die Luft ein. Und ob etwas passiert war! Ich hatte jemanden kaltblütig ermordet! Will umarmte da gerade ein Monster!

»Lass mich los, Will.«, sagte ich. Ich ertrug seine Umarmung nicht länger. Ich fühlte mich so dreckig. Am liebsten wollte ich in eine Dusche springen und mich so lange abschrubben, bis meine Haut ganz rot war. Und selbst dann wäre ich vermutlich noch nicht sauber.

Verwirrt sah er mich an. »Was?«

»Du hast mich schon verstanden.« Ich schob ihn von mir weg. Es tat mir weh, ihn so zu behandeln, aber es musste sein. Ich war ein Monster. Ich war dreckig. Will sollte kein Monster umarmen. Er sollte nichts von meinem Schmutz abbekommen.

»Was ist los?«, fragte Will mich irritiert. »Mika?«

»Nichts.«, sagten ich. Er durfte es nicht erfahren. Sonst würde er mich hassen.
Und auch meine leiblichen Eltern würden keine Mörderin zum Kind wollen. Und meiner Mutter? Wie sollte ich das nur meiner Mutter erklären? Ich konnte das alles immer noch nicht richtig begreifen. Was war in der Nacht nur in mich gefahren? Hätte es nicht gereicht, den Jäger bewusstlos zu machen und ihn anschließend zu Miss Johnson zu bringen? Was ich getan hatte, konnte nicht entschuldigt werden.
Es war besser so für alle, wenn ich sie auf Abstand hielt. Sie durften es nicht erfahren. Außerdem fühlte ich mich selbst wohler dabei, allein zu sein. Schon immer hatte es nur meine Mutter und mich gegeben. Und in der Schule schließlich nur mich. Es wäre besser so.

»Was hat Firelight mit dir gemacht?«, knurrte mein Bruder. Er wirkte wie ein Beschützer und das versetzte mir einen Stich ins Herz. Er würde das nicht tun, wenn er wüsste, was vorgefallen war. Jahrelang hatte er nach seiner Schwester gesucht. Bestimmt hatte er gewisse Vorstellungen von mir gehabt, ehe er mich zum ersten Mal gesehen hatte. Diesen aber würde ich nie entsprechen können. Ich war schlecht.

»Er hat nichts gemacht.«, sagte ich. Fast nichts. Aber das brauchte ich ihm nichts zu sagen.

»Er hat dich hergebracht. Also hat er etwas damit zu tun, dass du im Krankensaal gelandet bist!«, entgegnete Will eisern. »Wenn ich ihn sehe, bring ich ihn um!«
Bei diesen Worten zuckte ich ungewollt zusammen.

Nein. Das wollte Will nicht. Und das durfte er nicht. Das wäre nicht richtig. Zumindest in dieser Sache war Damon unschuldig. So seltsam das auch klingen mochte. Außerdem wollte ich nicht, dass Will sich damit kaputt machte, gegen sein eigenes Gewissen kämpfen zu müssen.

»Will.«, sagte ich mit Nachdruck. »Mit dieser Sache hat Damon nichts zu tun. Er hat nichts getan.«

Entgeistert starrte Will mich an. »Nichts getan? Sieh dich an! Deinetwegen hast du eine Narbe! Er hätte dich töten können!«, rief er fassungslos über meine Worte. Ich verschwieg ihm, dass ich diese Narbe verdient hatte. Damals nicht, aber mittlerweile. »Was ist los mit dir?«, wollte er entsetzt wissen, als er mein Gesicht sah. Ich jedoch wandte nur den Kopf ab. Was ich getan hatte, fühlte sich wie ein unglaublich schweres Gewicht an, das meine Schulter und somit auch mich mit aller Kraft niederdrückte. Und mein Gewissen? Das füllte wimmernd meine Gedanken aus.

»Nichts.« Meine Stimme zitterte verräterisch. »Geh einfach.« Es war besser so. Lange betrachtete mich Will.

»Ich werde herausfinden, was mit dir los ist.«, versprach er entschlossen, dann war er auch bereits schon aus der Tür verschwunden.


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