Kapitel 18 - Ich hasse dich nicht ✅

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Danach verbrachten wir noch einige Minuten schweigend am See. Niemand von uns hatte das Bedürfnis, die ruhige Stille zu brechen. Sie war ein kleiner Segen. Die Ruhe vor dem Sturm. Schließlich konnte ich nicht wissen, wie die Welt morgen aussehen würde. Würden Will und Claire schweigen oder würden sie mich verraten? Würden sie mich verraten, wäre es mit mir vermutlich vorbei. Daran wollte ich gar nicht erst denken.

Verstohlen schielte ich zu Damon. Dieser blickte auf den See. Seine Augenbrauen hatte er zusammengezogen. Dachte er nach? Worüber?

Es war merkwürdig. Noch vor kurzem waren wir Feinde gewesen und nun herrschte Frieden. Wie klang das denn? Und wie würde mein Bruder darauf reagieren? Obwohl mich das gar nicht interessieren sollte, da er mich vermutlich so oder so hassen würde. Sehr wahrscheinlich würde er mich als leichtsinnig abstempeln. Aber ich hatte es lieber so, als in ewiger Angst zu leben.

Außerdem sorgte ich mich im Moment eher um mein Geheimnis, das, wenn es schlecht lief, bald schon keines mehr sein würde, sorgen. Was würde dann mit mir geschehen? Würde man mich festnehmen? Oder doch lieber auf einen Scheiterhaufen brennen sehen?

»Klärst du das mit deinem Bruder?«, riss Damon mich plötzlich aus meinem Gedankenchaos. Mit ernstem Gesicht sah er mich an.

Tief seufzte ich. »Ich weiß es nicht.«, gab ich zu. Konnte man das überhaupt noch klären? Immerhin war das alles andere als eine kleine Sache, die da gerade zwischen uns stand. Eine ganz und gar schwierige Sache.

»Das solltest du aber.«, meinte er.

»Wieso ist dir das so wichtig, dass ich das mit ihm kläre?«, wollte ich verwirrt wissen. An meinem Wohlergehen konnte er wohl kaum interessiert sein.

Damons ernste Gesichtszüge wurden einen Hauch weicher. Dennoch reichte diese kleine Veränderung in seiner Miene aus, um tatsächlich für einen Augenblick zu vergessen, dass er ein Jäger war.

»Familie ist wichtig. Nutze die Gelegenheit, ehe du es bereust.«, sagte er mit belegter Stimme und in seinen dunklen Augen entdeckte ich die Qual. Er litt unter dem Verlust seiner Familie. Wer würde das nicht? Seine Familie war fort. Für immer. Unerreichbar. Niemals würde er mit ihnen reden, lachen oder sich mit ihnen streiten können. Damons Geschichte zeigte, dass der Tod immer plötzlich auftauchen und zuschlagen konnte. In manchen Fällen auch unerwartet. Dass die Jäger es auf meine Familie und mich abgesehen hatte, erhöhte bei uns die Wahrscheinlichkeit.

»Du hast recht.«, gab ich leise zu. Und wieder rief ich mir ins Gedächtnis, dass ich nicht mehr vor meinen Problemen davonlaufen wollte.

»Gut.« Damon erhob sich. Für ihn war alles geklärt. Noch ein letztes Mal, warf er mir einen nicht zu deutenden Blick zu, dann verschmolz er auch schon mit der Dunkelheit. Nervös atmete ich einmal tief ein und aus. Egal wie spätes war, ich regelte das jetzt!

Fest entschlossen schritt ich los. Die Korridore des Schlosses schienen wie ausgestorben. Niemand weit und breit. Dazu kam noch die Dunkelheit, die sich überall bemerkbar machte. Nachts war dieses Schloss ein unheimlicher Ort, an dem man nicht gerne alleine herumlief.

Ich gelangte in den Westturm und öffnete die Tür, die zu den Jungenzimmern führte. Welche Zimmernummer Will wohl hatte? Wenigstens das hätte ich doch wissen müssen! Es gab nur uns beide hier. Da hätte ich zumindest eine Ahnung davon haben könnte, wo genau er hier wohnte. Aber davon abgesehen: Meine Zimmernummer kannte er auch nicht.

Wahllos öffnete ich irgendwelche Türen im Jungenflur der letzten Klassenstufe. Wo verdammt war Wills Zimmer? Mit jeder Tür, die ich öffnete, stieg meine Nervosität, sodass mir schon der Magen zu schmerzen begann. Wieso wartete ich nicht einfach bis morgen früh? Das Wissen, dass ich jemanden getötet hatte, gepaart mit meinem nächtlichen Einbruch in Wills Zimmer - seine Privatsphäre, sein sicherer Hafen - würde garantiert nicht dazu führen, dass er mir leichter verzieh. Aber wenn ich es jetzt nicht tat, würde ich es vielleicht niemals tun.

Wieder zog ich an einer Tür, doch diese war abgeschlossen. Ich sah auf die Tür. Nummer 15. Würde ich mir merken. Das musste Wills Zimmer sein. Der Schlüssel jedenfalls steckte. Nur leider auf der anderen Seite der Tür. Aber das sollte kein Problem sein. Nicht mehr.

Entschlossen schloss ich meine Augen und konzentrierte mich auf den Schlüssel. Langsam begann er sich im Schloss zu drehen und es klickte.

»Ha!«, rief ich triumphierend und öffnete die Tür. Das Zimmer unterschied sich nicht allzu sehr von meinem. Dunkle Wände, derselbe Boden, nur ein anders farbiger Teppich und ein anderes Sofa. Außerdem befanden sich in Wills Zimmer einige Bilderrahmen, die Fotos enthielten.

Das Licht im Zimmer war aus und ich konnte Wills Gestalt in seinem Bett ausmachen. Schlief er? Ungern wollte ich ihn wecken. Aber etwas anderes blieb mir wohl kaum übrig.

»Will?«, flüsterte ich behutsam. Will regte sich nicht.

»Will?«, flüsterte ich wieder. Sein Kopf war nach wie vor von mir weggedreht. Leise tapste ich auf ihn zu. Will schlief nicht. Er lag auf der Seite, mir den Rücken zugekehrt und hielt einen der Bilderrahmen in den Händen und schaute auf das Foto darin, ohne aufzusehen. Das Foto zeigte eine vierköpfige Familie, die vor einer großen Villa stand und glücklich grinste.

Eine Frau, ein Mann, ein zweijähriger Junge und ein Baby. Sie alle hatten schwarzes Haar, aber nur drei von ihnen hatten diese sturmgrauen Augen, wie ich sie hatte. Und das waren die Frau, der kleine Junge und das Baby. Alle schauten glücklich aus. Selbst das Baby lachte in die Kamera.

Meine Familie.

Das war meine Familie. Meine leiblichen Eltern, mein Bruder und ich. Eine Träne rollte über meine Wange. In meinem Leben hatte ich nur wenig mit ihnen beschäftigt, hatte sie nicht gebraucht. Schließlich hatte ich meine Mutter. Aber sie nun doch zu sehen - und sei es nur auf einem Foto - löste doch mehr in mir aus, als ich es erwartet hätte. Still blieb ich stehen, schaute einfach weiter auf das Foto, während meine Augen sich mit Tränen füllten. Das war meine Familie. Und sie hatte mich abgegeben.

Langsam schritt ich rückwärts zurück zur Tür. Ich sollte hier nicht sein. Das hier war etwas Privates. Und ich sollte es nicht stören.

»Gute Nacht, Will.«, flüsterte ich heiser und wollte mich umdrehen, um zu gehen, doch da erklang Wills Stimme.

»Bleib.«

Vorsichtig schaute ich zu ihm. Er war aufgestanden.

»Komm her.«, sagte er. Unsicher ging ich zu ihm. Was würde jetzt passieren? Sein Verhalten hatte ich nicht vergessen. Aber so wirklich übelnehmen konnte ich es ihm auch nicht. Wie könnte ich? Er hatte jedes Recht dazu.

Ich kam bei ihm an, wollte gerade den Mund aufmachen für eine Erklärung, doch Will ließ mich nicht. Er schloss mich einfach in seine Arme und sprach nicht. Erst war ich ein wenig überrascht, doch dann erwiderte ich seine Umarmung.

»Es tut mir so leid, Mika.«, hörte ich Will leise sagen. »Es tut mir so leid.«

»Es muss dir nicht leidtun, Will.«, flüsterte ich. Ich merkte, wie Will entschlossen den Kopf schüttelte.

»Doch, muss es. Du hast mir erzählt, was geschehen ist. Ich habe gesehen, dass du es eigentlich für dich behalten wolltest. Ich wusste, wie schwer es dir gefallen ist.«, sagte Will. Ich wollte ihn unterbrechen, doch er redete weiter und ließ mich nicht zu Wort kommen. »Du wurdest angegriffen. Du hast dich doch nur selbst schützen wollen. Also hast du ihn getötet. Ich verstehe das. Wirklich.«

Sollte ich ihm sagen, dass es mir Genugtuung bereitet hatte, den Jäger zu töten? Der Tod des Jägers war kein Unfall gewesen.

»Mika? Ich hasse dich nicht.«

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